Aus dem Blütenkleid zog Amapola ihren Zauberstab hervor, den eine magische Aura umgab. »Jetzt wird es ernst. Es kann losgehen. Seid ihr bereit?«
Plötzlich lag Spannung in der Luft, sie knisterte geradezu vor Aufregung. Emma und Ben fühlten, dass gleich etwas geschehen würde, das ihr ganzes Leben für immer verändern würde.
Sämtliche Farbe wich aus Bens Gesicht, sodass er immer bleicher aussah. Angst presste sein Herz zusammen. Doch es war nicht die Angst vor möglichen Gefahren, sondern vor allem davor, dass der See der Heilung nicht hielte, was er versprach.
»Aber wie sollen wir da durchgehen? Wo ist denn das Loch?«, fragte Emma zweifelnd.
Amapola beruhigte sie: »Vertraue! Ein Zauberspruch und das Weltentor öffnet sich für kurze Zeit.«
»Let’s go!”, drängte Ben.
Emma nahm ihre Ledertasche mit dem Zauberbuch, die sie sich schräg über die Schulter hängte, damit sie dicht am Körper lag.
Die Elfe hielt den Zauberstab hoch, der zu leuchten begann. Dann murmelte sie und schrieb seltsame Zeichen mit ihrem Stab in die Luft.
Plötzlich fühlte es sich an, als würde die Erde leicht beben. Die alte Eiche knarrte, stöhnte und dehnte ihren Stamm.
Entgeistert starrten Emma und Ben den knorrigen Baum an, in dem sich langsam und unter lautem Geknirsche ein Loch bildete. Emma nahm die Hand ihres Freundes und hielt vor lauter Aufregung die Luft an. Sie spürte, wie ihr Herz vor Anspannung schneller pochte.
Die Elfe flog in die Öffnung hinein, die zwei Freunde folgten ihr zögernd. Auf einmal erklang die Glocke vom Kirchturm im Dorf. Emma drehte sich um und sah etwas, das ihr den Atem stocken ließ: Die Ratte, die sie auf dem Speicher bei Tante Esther gesehen hatte, saß im Gras und starrte sie aus glühenden, hasserfüllten Augen an. Ohne zu zögern, sprang sie hinter ihnen her, prallte jedoch wie an einer unsichtbaren Wand ab und fiel zu Boden.
Emma kam nicht mehr dazu, darauf zu reagieren. Kaum hatten sie die Eiche betreten, wurden die drei Reisenden von einem wilden Sturm erfasst. Sie verloren den Boden unter den Füßen und ein unglaublicher Lärm erfüllte die Eiche. Es fühlte sich an, als würden sie in einem rotierenden Spiralnebel herumgewirbelt werden. Emma schrie nach Ben, doch ihre Rufe verhallten als endloses Echo in der Leere von Zeit und Raum. Dann herrschte absolute Stille.
*
Fast lautlos bewegte sich John mit seinem Freund, dem Katzenjungen Nijano, durch den Wald. Sie waren als Späher unterwegs. Ihre übliche Runde um das Lager der gestrandeten Kinder drehend, beobachteten sie schweigsam und konzentriert den Boden. Sie achteten auf ungewöhnliche Spuren, verließen die Nähe des Lagers und drangen tiefer in den Wald hinein. Die Kunde von gefangenen Elfen war auch zu ihnen gelangt, deshalb galt erhöhte Vorsicht.
Seit ein paar Tagen quälte John eine unerklärliche Unruhe. Er spürte, dass sich etwas Bedrohliches anbahnte. Doch er konnte nicht ergründen, welche Gefahr nahte. Nachts schlief der Lakota schlecht, weil ihn Träume heimsuchten, die von Kampf und Verderben handelten.
Ruckartig blieb John nun stehen. Gerade geschah etwas. Der Stein, der um den Hals hing, erwärmte sich stark. Unerwartet wurde John von Ruhe erfüllt, die seinen Körper wie eine Woge durchströmte.
Nijano beobachtete den Freund. »Was ist los mit dir?«
»Ich weiß es nicht. Irgendjemand ist in Fanrea eingetroffen.«
»Du meinst jemand Gefährliches?«
»Nein. Ich glaube, mein Traum war eine Vision.«
Mit nachdenklichem Blick musterte Nijano seinen Freund. Wenn dieser etwas Ungewöhnliches fühlte oder träumte, gab es oft einen wichtigen Hintergrund dafür. Mehr als einmal hatte John durch seine Hinweise Nijano oder andere Lagerbewohner vor einer Gefahr bewahrt. »Was soll das heißen?«
John zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Vielleicht ein Mädchen aus der Menschenwelt. Vor ein paar Tagen habe ich ihre Stimme gehört, sie hat mich um Hilfe gerufen. Sie befand sich in Gefahr, doch ich konnte ihr nicht helfen. Unsere Wege werden sich bald kreuzen, da bin ich mir ziemlich sicher.«
Fanrea
Wie aus einem Traum erwachten Emma und Ben. Erleichtert sahen sie einander an und stellten fest, dass sie unversehrt waren. Sie wollten sich in die Arme fallen, aber ihre Bewegungen wurden durch etwas Sperriges in den Händen gestoppt: Waffen! Aufgrund des dämmrigen Lichts erkannten sie nichts Genaueres und traten schnell aus dem Baum heraus. Sie konnten kaum glauben, was sie sahen: Emma trug einen geschnitzten Bogen, ebenso einen Köcher mit Pfeilen in der Hand. Ben ein beeindruckendes Schwert.
Fasziniert musterte Ben die Waffe, die ihm irgendwie bekannt vorkam. Aus den fernen Tiefen seiner Erinnerung blitzte ein Bild auf: Mit dem Schwert in der Hand stand er auf einem Hügel, hielt es hoch wie ein Sieger, und es funkelte in der strahlenden Sonne. ›Krieger des Lichts!‹ hallte eine Stimme in seinem Kopf.
Sein Traum der letzten Nacht fiel ihm ein: Er, in der Schmiede, mit dem Schwert. Ob die beiden Schwerter etwas miteinander zu tun hatten? Ben betrachtete die Waffe, die leichte Gebrauchsspuren aufwies, genauer. Sie besaß eine lange Klinge aus geschmiedetem Stahl, dazu einen kunstvoll verzierten Griff, in dessen Mitte ein glitzernder roter Stein funkelte, über dem ein Schriftzug eingraviert war. Ben schaute an sich herunter. Überrascht stellte er fest, dass er einen Gürtel aus dunklem Leder trug, in dem zwei Dolche mit unterschiedlich langen Klingen steckten, deren Griffe genauso beschaffen waren wie der des Schwertes.
Bens Beine steckten in braunen Lederhosen mit Gamaschen, seine Füße in Stiefeln aus weichem Leder, deren obere Kanten mit Fransen verziert waren. Über der Hose trug er ein beigefarbenes Hemd aus grobem Leinen, das mit geschnitzten Holzknöpfen geschlossen wurde. An seinen Unterarmen befand sich ein Armschutz aus dunkelbraunem Leder. Ein Brustschutz aus dickem Leder komplettierte die Ausstattung. Fast sah Ben aus wie in seinem nächtlichen Traum.
»Robin Hood persönlich!«, amüsierte sich Emma.
Ben schaute zu ihr und stellte fest, dass sie ähnlich gekleidet war wie er. »Cool, dann bist du meine Lady Marian. Komm, wir gehen zum Kostümball!«
Emma kicherte. Sie trug ebenfalls eine Hose, Gamaschen und Stiefel aus Leder, allerdings zusätzlich zum Leinenhemd eine ärmellose Lederweste. Darüber hinaus besaß sie den gleichen Gürtel mit zwei Dolchen wie Ben. Er fand, dass sie umwerfend schön aussah, wild und abenteuerlustig.
Währenddessen betrachtete Emma ihren Bogen: Er war aus Holz und mit geheimnisvollen Schnitzereien verziert. An der einen Seite stand ein Wort in verschnörkelter Schrift: »Mai-ra.« Emma flüsterte das Wort kaum hörbar.
›Maira, Maira, …!‹, hörte sie eine Stimme, die einem Echo in ihrem Kopf ähnelte. ›Kriegerin des Lichts!‹
Ein greller Blitz der Erkenntnis traf Emma: »Ich war einmal ein Mädchen namens Maira! Den Bogen und die Pfeile habe ich selbst gefertigt, als ich Maira war. Ben, du warst damals bei mir, aber du hattest auch einen anderen Namen.«
»Schau, Melvin ist hier in meinem Schwert eingraviert. Ich erinnere mich wieder: Ich war Melvin!« Das Schwert fest in beide Hände nehmend, betrachtete er die Klinge, die sehr scharf wirkte. Dieses Schwert schien schon viele Schlachten mit ihm geschlagen zu haben, das fühlte Ben. Er stellte sich in Position und versuchte zunächst horizontale Schläge. Dabei hielt er die Arme gestreckt vor den Körper und legte seine ganze Kraft hinein. Während er die Schwertstreiche durchführte, bewegte er sich bei jedem Streich einen Schritt vorwärts. Plötzlich hatte er das Gefühl, als ob das Schwert ganz leicht in seiner Hand vibrierte und ihn damit begrüßen wollte.
Ben versuchte einen anderen Schlag. Mit gestrecktem Arm hob er das Schwert hoch, zunächst rechts über den Kopf und führte es anschließend schräg nach links unten. Die Bewegungen fühlten sich unglaublich gut an, so als ob er nie etwas anderes gemacht hätte. Ein Gefühl der Vertrautheit stellte sich ein. Eine Zeitlang übte Ben die verschiedensten Techniken. Er war