»Puh!« Maira seufzte. »Du bist jetzt schon der zweite, der mir kluge Tipps gibt. Erst der neunmalkluge Zauberer und nun du. Na prima! Da fühle ich mich gar nicht bevormundet!« Sie schnitt eine Grimasse.
Der Baum lächelte milde. »Ach Menschenkind, sei doch nicht so trotzig! Aber so warst du früher schon!«
*
In der Zwischenzeit ritt Melvin auf Ilian in wildem Galopp durch die nähere Umgebung. Bäume, Wiesen und ein See zogen an ihnen vorbei. Melvin traute sich vor Aufregung kaum zu atmen, genoss jedoch das rasante Tempo. Plötzlich breitete Ilian seine Flügel aus und schon hoben die beiden ab. Der kühle Wind pfiff Melvin um die Ohren, während die Welt unter ihnen klein und kleiner wurde und dadurch wie eine winzige Spielzeuglandschaft wirkte.
Begeistert jauchzte Melvin. Keine Sorgen bedrängten ihn, sondern er fühlte eine grenzenlose Freiheit. In diesem Moment der puren Lebensfreude geschah es: Etwas, das ihn schon immer eingeengt hatte, löste sich auf. Als wäre ein Splitter aus seinem Herzen entfernt worden. Es fühlte sich richtig gut und erlösend an. Doch kaum nahm Melvin dieses Gefühl war, entglitt es ihm schon wieder. Sogleich vergaß er es.
Weite Teile Fanreas konnte er nun aus der Vogelperspektive wahrnehmen. Staunend blickte er auf die vielfältige Landschaft unter ihm. Westlich erhob sich ein zerklüftetes, karges Bergmassiv, dessen Hänge schneebedeckt waren. Die Gipfel verschwanden in gigantischen Wolken, die sich dort drohend türmten. Vor Melvin lag dicht bewachsener Wald, der endlos schien. Östlich erstreckte sich ein weiteres Gebirge, aber die Berge schienen niedriger und nicht so unwegsam.
»Dort, in den flachen Bergen im Osten, dem Braghgebirge, ist Zwergenland, und das wilde Gebirge, genannt Rough Mountains, ist die Heimat der Trolle und einiger weniger Drachen!«, schrie Ilian gegen den Wind an.
Melvin nickte, obwohl der Pegasus das natürlich nicht sehen konnte. Am nordöstlichen Horizont glitzerte es wie tausend Diamanten, sodass der Junge dort das Meer vermutete. Fasziniert schaute er auf das intensive Blau, und erneut überschwemmten ihn Erinnerungen. Er sah einen Zwerg neben sich auf einer Klippe stehen, während der Wind an seinen Haaren zerrte. Fast schmeckte Melvin die salzige Luft auf den Lippen, so intensiv traf ihn die Erinnerung. Der Name Karakas erschien wie von selbst in seinen Gedanken. Ja, Karakas, so hieß der Zwerg. Wer war dieser Karakas?
Nun veränderte Ilian wieder die Richtung. Tief unter ihnen lag ein smaragdgrüner Waldsee, der unergründlich aussah. Der Pegasus zog eine große Schleife, sodass Melvin nun die vielen Waldgebiete unter sich betrachten konnte. Ihm fiel auf, dass weder Städte, noch Straßen oder rauchende Industrieschlote das Bild störten.
»Dieser Wald ist der Dunkelwald!«, rief Ilian.
Sie flogen zurück zur Eiche. Am Horizont erkannte Melvin eine grüne, wogende Masse und dahinter eine Wüste. Grenzenlose, wellenförmige Sandberge, die sich dort auftürmten und in der Unendlichkeit des weiten Nichts verloren. Eine unbekannte Sehnsucht ergriff Melvins Herz, und er brüllte: »Was ist das Grüne? Kommt noch was hinter der Wüste?«
»Vor der Wüste befindet sich das große Grasmeer. Ein gefährlicher Ort, weil man sich zu Fuß darin leicht verirren kann. Was hinter der Wüste ist? Tja, das ist unerforschtes Gebiet, von dort ist scheinbar noch keiner zurückgekommen. Soweit ich weiß, hat von uns noch niemand die Wüste überflogen. Jedenfalls hat mir keiner davon berichtet. Dennoch gibt es Gerüchte, dass dort das sagenhafte Drachenland liegt und äußerst kriegerische Menschen in der Gegend leben. Manche erzählen, dass es vor langer Zeit sogar einmal ein Weltentor von dort nach hier gab.«
Melvin betrachtete das Grasmeer und fand dessen Namen sehr passend, denn es wirkte tatsächlich wie wogende Wellen. Nun blickte er in Richtung der Wüste. Er fühlte die Bedrohung, die von diesem trostlosen Glutofen aus Sand ausging, aber konnte die Augen kaum von dieser endlosen Einöde abwenden. Drachen! Was für eine unglaubliche Vorstellung, dass in Fanrea Drachen lebten. Bei dem Gedanken an diese gigantischen Wesen verspürte Melvin ein Ziehen in seinem Herzen. Zudem begann der Leberfleck auf der Schulter zu jucken, den der Junge geistesabwesend kratzte.
Bedauerlicherweise ging Ilian jetzt langsam in einen Sinkgleitflug über. Er hielt seine großen Flügel still, nutzte dadurch die Aufwinde, schwebte noch etwas, verlor weiter an Höhe, um schließlich sanft vor Maira und Amapola zu landen.
Melvin sprang von Ilians Rücken und strahlte die Freundin an. Vor Aufregung waren seine Wangen gerötet und Glückshormone fluteten den Körper. »Das war vielleicht krass!«
Maira lächelte und freute sich mit Melvin. »Du bist echt auf einem Pegasus geflogen! Außerdem: Wieso kannst du so gut reiten?«
»Ich weiß nicht, ich kann es einfach!«
»Seltsam! Aber mich wundert bald gar nichts mehr«, stöhnte Maira.
Melvin Augen funkelten schelmisch. »Meine Mama sagte immer, das Leben ist wie eine Schachtel Pralinen, man weiß nie, was man bekommt*.«
Maira kicherte: »Du bist einfach verrückt, Forrest Gump.«
Zunächst sah Amapola die beiden verständnislos an, wandte sich dann aber ab, ohne etwas zu sagen. Mit eisiger Stimme erkundigte sie sich bei Ilian: »Wo bleibt denn unser Begleitschutz? Bis jetzt ist niemand aufgetaucht!«
Ilian stotterte: »Äh, ja, äh, es ist was dazwischen gekommen … Wir sind auf uns gestellt, hm, ja, so kann man es sagen.«
»Dazwischen gekommen? Was soll das heißen? Das glaub ich jetzt nicht! Sollen wir etwa allein durch …?«
»Später! Ich erkläre es dir später!«, unterbrach Ilian energisch.
Erzürnt und fassungslos flatterte Amapola vor dem Pegasus auf und ab. Mit Verzögerung begriff die Elfe, dass er vor Maira und Melvin nicht darüber sprechen wollte. Kleine Zornesfalten standen auf ihrer Stirn. Es fiel ihr sichtlich schwer zu schweigen.
Leise murmelte Melvin: »Houston, wir haben ein Problem*.«
Das Böse naht
Zur selben Zeit lief Worak nuschelnd durch seine modrige, unterirdische Höhle. Die Haltung war leicht nach vorn gebeugt, als ob die Last der eigenen Bosheit ihn niederdrückte. Die eine Hälfte seines hageren Gesichts war durch einen Unfall entstellt worden, als der Zauberer versucht hatte, ein Verjüngungselixier herzustellen. Einer der Glaskolben explodierte, wobei ätzende Säure und loderndes Feuer diese Seite seines Gesichtes zerfraßen. Inzwischen wurde die Haut von tiefen, roten Narben durchfurcht.
Die düstere Höhle bestand aus vielen, weit verzweigten Gängen. Hin und wieder wurde die Dunkelheit durch Fackeln erhellt, deren Feuer gespenstische Schatten an die Wände warf. Einige Gänge erweiterten sich zu Kammern, die Worak als Wohnzimmer, Schlafzimmer und Küche dienten. An den Wänden des Wohnzimmers hingen ausgestopfte Köpfe von Zentauren, Einhörnern, Wassermännern und Kobolden. Auf einem Schild unterhalb der Köpfe standen die Namen der jeweiligen Wesen, geschrieben mit dem Blut der Getöteten. Inmitten des Zimmers thronte ein aus einem Baumstamm geschnitztes Sofa, dessen Polster aus schneeweißem Einhornfell bestand. Neben diesem Sofa kauerte ein aschgraues Etwas mit mottenzerfressenem Fell. Es war ein Wolf, der ab und zu knurrend den Kopf hob, um ihn dann wieder gelangweilt auf dem Boden abzulegen.
In der Küche brodelte es in verschiedenen Töpfen und farbigen Glaskolben. Es zischte, dampfte und stank bestialisch. Worak erfand mit Begeisterung neue Zaubertränke, Giftmischungen oder selbstgebrannte Schnäpse. Gerade jetzt lief er aufgeregt in seine Giftküche, weil ein Kolben, gefüllt mit einer dampfenden, grünen Flüssigkeit, fauchend überlief.
»Ach je, in Teufels Namen! Mein Gastgeschenk, der Eidechsenschnaps für Yarkona und ihre dämlichen Hexenschwestern, ist übergekocht!«, schimpfte Worak. Aus seinem schmutziggrauen Kittel zog er einen zerknitterten Brief und strich ihn hektisch auf dem bekleckerten Küchentisch glatt.
»Wann