Mo Morris und der Staat der Flüchtlinge. Benedict Dana. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Benedict Dana
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783752922332
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Die größeren Wohntürme, die das Stadtzentrum bildeten, hatten alle unterschiedliche Formen und Höhen, woraus sich der Eindruck einer organisch wirkenden, zu der natürlichen Bergwelt korrespondierenden Unregelmäßigkeit ergab.

      Der andere, vor ihnen herfahrende Bus hatte bereits die Haupteinfahrt in die Stadt erreicht, die aus zwei offen stehenden Schranken und einem großen, etwas abseits liegenden, holzverkleideten Gebäude bestand. Auf seinem mit dicken Schieferplatten gedeckten Dach war ein weithin sichtbares Schild angebracht, auf dem in englischer, italienischer, deutscher und französischer Sprache „UN-Besucherzentrum“ stand. An den Schranken hatte wegen der Ankunft der Flüchtlinge eine Gruppe von UN-Mitarbeitern Position bezogen, die die nahenden Busse durch Handzeichen aufforderten anzuhalten.

      Mo war durch die vielen, sich in seiner Wahrnehmung drängenden Eindrücke unschlüssig, welchen Dingen er bevorzugt Aufmerksamkeit schenken sollte. Links von ihnen lag etwas unterhalb der Stadt ein modernes Viertel mit kleineren Betrieben und Geschäften, dessen rasterartig angelegte Straßen und Gründstücke erkennen ließen, dass es nach dem Bau der Innenstadt gesondert geplant und errichtet worden war. Die einzelnen Wohnhäuser, die sich von der Menge der Flüchtlingsunterkünfte abhoben und vorwiegend erhöht an den Berghängen inmitten größerer, tannenbewaldeter Grundstücke lagen, beherbergten vermutlich einen Teil der UN-Mitarbeiter, die in der Verwaltung der Stadt tätig waren.

      Als der Bus hielt und zwei italienische UN-Kontrolleure hereinkamen, spürte Mo, wie sich Sofias Hand voller Anspannung in seinen Unterarm grub. Während sich einer der Kontrolleure langsam durch die Reihen zu ihnen vor arbeitete, kramten sie nervös die blauen, kreditkartengroßen Ausweise aus ihren Taschen hervor, die sie am Abend zuvor von Greg erhalten hatten. Als der Italiener bei ihnen angekommen war, würdigte er sie nur eines oberflächlichen Blickes und steckte die Ausweise schnell und routiniert in ein Lesegerät. Daraufhin signalisierten lediglich ein kurzer Piepslaut und eine grüne Leuchtdiode, dass in diesem Moment ihr Aufenthaltsrecht für die UN-RN in Kraft getreten war und sie ordentliche Bürger der UN-City geworden waren.

      Bald setzte sich der Bus wieder in Bewegung und ließ den äußeren, locker bebauten Bereich der Stadt schnell hinter sich. Er fuhr in eine schmale Straße ein, an deren Rändern die Fassaden großer Wohnhäuser so hoch und nah beieinander aufsprangen, wie in einem traditionellen italienischen Dorf. Der Dorfcharakter wurde dadurch verstärkt, dass an vielen Gebäuden bunte Holzfensterläden angebracht waren und von der Straße überall kleine Gassen abzweigten, die teilweise steil anstiegen und auf große, die Berghänge hinaufführende Treppen aus Felssteinen zuliefen. Die Architektur der Gebäude lehnte sich eindeutig an einen rustikalen Alpenstil an, da Holz und Felsstein das Hauptmaterial der meist grob gemauerten Fassaden mit ihren vorwiegend naturfarbenen Holzfenstern und –türen bildeten.

      Es waren fast nirgendwo andere Fahrzeuge zu sehen, nur hier und da parkten kleine Elektrowägelchen am Straßenrand, die meist offene Ladeflächen besaßen. Die Busse rumpelten über das grobe Straßenpflaster auf das „City Center“ zu, dessen Entfernung regelmäßig durch blaue Schilder angezeigt wurde und zuletzt 350 Meter betrug. An den Straßenrändern drängten sich hier und da Menschentrauben vor kleinen Läden, in denen Lebensmittel ausgegeben wurden. Die Stadtbewohner wirkten in ihrer bunten, modernen Kleidung kaum anders als die in normalen Städten, außer dass sehr viele Frauen Kopftücher trugen.

      Als die Busse wegen eines Hindernisses auf der Straße kurzzeitig zum Stehen kamen, konnten sie direkt in einen Laden sehen, auf dessen Schaufenster eine große UN-Flagge prangte und in sieben verschiedenen Sprachen „Bäckerei“ zu lesen war. Sie beobachten, wie im Inneren ein paar Frauen und Männer hinter einem einfachen Tresen damit beschäftigt waren, eine einzige Sorte von Brotlaiben in schlichtes, weißes Papier einzurollen und den eintretenden Kunden zu überreichen. Anstatt mit Geld zu bezahlen, wurde der kleine, blaue Ausweis gescannt, den jeder in der Stadt ständig bei sich trug.

      Sofia war über alles in „Unity“ bestens informiert und so hielt sie es für angebracht, Mo hinsichtlich der Läden näher aufzuklären. Dabei sprach sie leise flüsternd, damit niemand mitbekam, dass sie sich auf Englisch unterhielten.

      „Im Innenstadtbereich von Unity wurde bisher kein privates Gewerbe zugelassen. Laut einem UN-Dekret herrscht unter Flüchtlingen das Prinzip der Gleichheit. Flüchtlinge sind Flüchtlinge, solange sie eben Flüchtlinge sind. Lassen sie sich dauerhaft nieder und betreiben ein Gewerbe, sind sie per definitionem keine Flüchtlinge mehr. Private Geschäfte befinden sich ausschließlich unten am Stadtrand in der Gewerbezone oder ganz außerhalb auf italienischem Gebiet. Die Inhaber sind fast alle Italiener. Die Läden in der Innenstadt, einschließlich der Souveniershops, werden alle von der UN betrieben und ihre Erlöse fließen in die Stadt.“

      Kurz nach ihren Erläuterungen setzten sich die Busse wieder in Bewegung, doch nach kurzer Strecke waren sie bereits wieder gezwungen anzuhalten. Der Grund schien geradezu absurd zu sein und wirkte wie eine Parodie auf die Verkehrsverhältnisse, wie man sie aus normalen Städten kannte: Von einem Drahtseil, das zwischen zwei Gebäude gespannt war, hing eine einzige, einsame Ampel hinunter, die in diesem Moment auf Rot geschaltet hatte. Auf der einmündenden Querstraße war nicht ein einziges Fahrzeug zu sehen und inmitten all der Fußgänger, die die Straße wie einen großen Gehweg benutzten, wirkten die beiden italienischen Busse wie zwei Eindringlinge aus einer anderen Welt. Bald wurden sie von einer Gruppe wild gestikulierender Männer umringt, die aus einem an der Ecke der Kreuzung liegenden Café herausgelaufen kamen und zur Begrüßung der Neuankömmlinge lachend und schreiend auf das Blech der Busse klopften. Die Stimmung war auf beiden Seiten ausgelassen und die Flüchtlinge im Bus trommelten aufgeregt an die Scheiben, so als hätten sie in den Männern ihre Brüder erkannt.

      Mo beobachtete belustigt das Treiben auf der Straße und vor dem Café. Es trug den Namen „Unity Corner“ und fügte den etwas artifiziell wirkenden Häuserkulissen eine Note von authentischem Leben hinzu. Mit seinen großen, weißen Bogenfenstern und seinen bis auf den Gehweg reichenden Tischen und Stühlen unterschied es sich nicht wesentlich von einem Café, wie man es an irgendeiner Straßenecke in Italien oder Frankreich fand.

      Die Ampel schaltete erst wieder auf grün, nachdem ein elektrobetriebenes Wägelchen, auf dessen Ladefläche zwei Frauen und zwei Männer in grüner Arbeitskleidung hockten, die Kreuzung passiert hatte. Die Fahrt ging weiter und je näher sie dem Zentrum kamen, desto höher wuchsen die Gebäude bis zu 15 Stockwerke empor, was der begrenzten Fläche von Bauland geschuldet war. Im Kontrast dazu stand die allmählich breiter werdende Straße, die durch die fehlenden Autos ein großzügiges Raumgefühl vermittelte. Unity gehörte zu den beneidenswerten Städten in der Welt, in denen erheblich mehr Menschen als Fahrzeuge die Straßen füllten, was eine freundliche und ruhige Atmosphäre erzeugte.

      Sie erreichten einen rot gepflasterten, stark verbreiterten Straßenabschnitt, der mit seinen vielen Schaufenstern einer Hauptgeschäftsstraße nachempfunden war. Eine Reihe von einfachen Restaurants, Cafés, Souvenirshops und sonstigen kleinen, von der UN betriebenen Läden waren bereits am Morgen von Touristen gut besucht und strahlten durch ihre einladende Architektur und ihre bunten Farben eine pittoreske Behaglichkeit aus.

      Sie hatten das Zentrum erreicht, und als sie in eine schmale Gasse einbogen, ließ das helle Licht, das sich an ihrem Ende sammelte, sowie ein Schild mit der Aufschrift „Unity Square 50 m“ die unmittelbar bevorstehende Ankunft auf einem großen, zentralen Platz erwarten. Bald darauf ging ein großes Raunen und Staunen durch den Bus und vor ihnen tat sich eine Fläche auf, die etwa so groß wie ein halbes Fußballfeld war. Ihre Ränder wurden von stattlichen, fünfstöckigen Häusern gesäumt, die mit ihren wuchtigen Steinquadern und ihren runden Fensterbögen erheblich aufwändiger als die übrigen Gebäude Unitys konstruiert waren. In der Mitte des Platzes befand sich ein runder Bau, der von einem kuppelförmigen, mit Schiefer gedeckten Dach überwölbt wurde und eine entfernte Ähnlichkeit mit einer Kirche oder einem Museum besaß. Der „Unity Square“ schien eine simplifizierte, eigenwillige Kopie einer klassischen italienischen Piazza zu sein. Die vergleichsweise prächtige Bauweise und die vielen UN-Flaggen an den Fassaden ließen sofort erkennen, dass sich zwischen den wenigen Wohnhäusern vor allem öffentliche Einrichtungen befanden.

      Der Bus hielt direkt vor dem zentralen, runden Hauptgebäude, wo er bereits von einer Gruppe