Mo Morris und der Staat der Flüchtlinge. Benedict Dana. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Benedict Dana
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783752922332
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als Bürger der Stadt registriert.“

      Gregs Erläuterungen hatten fast etwas beiläufig geklungen, so als wäre für ihn ein derartiges Vorgehen mittlerweile völlig alltäglich. Er öffnete noch einmal seine Aktentasche und zog dieses Mal einen weißen Papierumschlag heraus.

      „Ihr werdet darin einige Informationen über die Identität finden, die wir uns für euch ausgedacht haben. Beruf, Herkunft, Biografie und so weiter. Ihr solltet das alles noch heute Abend gründlich studieren. Ihr müsst Antworten parat haben, wenn euch jemand etwas fragt. Am besten vernichtet ihr diese Unterlagen gleich nach dem Lesen hier im Hotel. Euer Zimmer ist übrigens schon bezahlt.

      So, und nun muss ich gehen! Auf mich wartet wie gesagt noch eine Menge Bürokratie!“

      Als er sich daraufhin erhob und der herbeieilenden Kellnerin einige Geldscheine in die Hand drückte, fiel ihm noch ein:

      „Ach, euren Mietwagen hätte ich fast vergessen! Am besten holt ihr jetzt sofort euer Gepäck und werdet mir die Schlüssel geben. Ich werde ihn durch jemanden abholen lassen. Falls ihr für eure Ermittlungen Unity verlassen müsst und ein Auto braucht, könnt ihr euch an mich wenden.“

      Mo und Sofia blieb nichts anderes übrig, als seinem Vorschlag zu folgen und ihn nach draußen auf den Parkplatz zu begleiten. Dabei begann sich ihre Stimmung nochmals zu verschlechtern. Das gemütliche Abendessen war viel zu schnell vorüber gegangen und die Übergabe des Wagens markierte für sie den Punkt, an dem sie unaufhaltsam begannen, die freie Welt als freie Menschen hinter sich zu lassen und das unkomfortable Leben eines Flüchtlings zu beginnen…

      -

      Als er am nächsten Morgen in den Spiegel des Hotelzimmers sah, hatte er einen anderen Menschen vor sich. Die Verwandlung in einen Flüchtling, der schon seit Monaten von Land zu Land und Lager zu Lager unterwegs gewesen war, schien gelungen zu sein. Bereits seit der ersten Begegnung mit Timothy Goldworthy hatte er sich zur Vorbereitung seines neuen Auftrags einen Bart stehen lassen, der seinem gesamten Aussehen einen völlig anderen Charakter verlieh. Er fuhr sich ein paar Mal durch seine ungekämmten schwarzen Haare und versuchte vergeblich die braune Kordjacke zu dehnen, die ihm an den Schultern etwas zu eng war. Sie ergab zusammen mit einem alten Wollpullover und einer einfachen Jeans das Bild eines Mannes, der unauffällig, harmlos und bescheiden wirkte. Die runde Nickelbrille auf seiner Nase veränderte seine Erscheinung so sehr, dass er selber erstaunt darüber war. Seine schlanke, bewegliche und leicht untersetzte Gestalt, durch die er noch nie wie ein typischer Amerikaner ausgesehen hatte, begünstigte es, wie ein Schauspieler in die verschiedensten Rollen schlüpfen zu können. Er war von nun an „Samuel Bailey-Hemidi“, ein Engländer, der schon lange in Syrien lebte, nach seiner Heirat mit einer Syrerin die syrische Staatsangehörigkeit angenommen hatte und nun darauf hoffte, zusammen mit seiner Frau über die UN-RN nach England gelangen zu können. Obwohl diese Story auf etwas tönernen Füßen stand und durch ein paar gezielte, neugierige Fragen schnell zum Einsturz gebracht werden konnte, vertraute er darauf, dass sie für die Dauer ihrer Untersuchungen halten würde.

      Als Sofia ihn rief und ungeduldig zum Aufbruch mahnte, schaute er noch einmal kurz zum Fenster hinaus. Mittlerweile war auch der zweite der beiden Busse eingetroffen und auf der großen Außenterrasse des Hotels waren schätzungsweise 40 Flüchtlinge versammelt, die in der Morgensonne ein einfaches Frühstück genossen. Die Gelegenheit, sich unauffällig zu den leeren Bussen zu begeben, war günstig, also schlüpften sie aus dem Zimmer und eilten die Treppe hinunter. Sie stahlen sich an der Rezeption vorbei und nahmen den Hinterausgang, so dass sie sich dem Parkplatz unauffällig von der rückwärtigen Seite nähern konnten. Sie brauchten nicht lange nach den Fahrern zu suchen, denn kaum hatten sie die Busse erreicht, trat bereits einer von ihnen auf sie zu und fragte sie mit bedeutungsvoller Miene:

      „Sind Sie die, die hier heute Morgen zusteigen sollen?“

      Der Akzent des Fahrers gab ihn als einen Schweizer zu erkennen und es genügte ihren neuen Namen zu nennen, damit er ihnen ihr Gepäck abnahm und die Erlaubnis zum Einsteigen gab. Sie folgten seiner Anweisung, sich ganz nach hinten zu setzen, und warteten geduldig darauf, bis sich die Plätze nach dem Ende des Frühstücks langsam füllten. Ihre plötzliche Anwesenheit rief bei niemandem besonderes Erstaunen hervor, was auch daran lag, dass die Neuankömmlinge voller Aufregung und Vorfreude waren. Die Mehrzahl von ihnen waren junge, alleinreisende Männer, unter denen nur wenige Familien und einige ältere, kinderlose Ehepaare zu sehen waren. Kaum einer von ihnen hielt es nach dem Einsteigen lange auf seinem Sitzplatz aus, da sich nur eine Minute, nachdem der Bus den Parkplatz verlassen hatte und auf die Hauptstraße eingebogen war, der Tannenwald plötzlich lichtete und die ersten Vorboten der nahenden Stadt sichtbar wurden. Die Flüchtlinge, die Europa bisher vor allem aus der Perspektive öder Durchgangslager kennen gelernt hatten, drückten sich an den Fensterscheiben die Nasen platt und staunten über die sauberen, neu aussehenden Gebäude, die sich am Straßenrand aneinanderreihten. Es handelte sich um kleinere Betriebe, die sich zur Versorgung von „Unity“ auf italienischem Territorium niedergelassen hatten und mit Mitteln der europäischen Union gefördert wurden.

      Obwohl die Straße noch immer eine einzige Baustelle war und sich der Bus in schleichendem Tempo eine schmale, provisorische Fahrbahn heraufquälte, nahm die Begeisterung seiner Fahrgäste stetig zu. Für sie war die UN-RN so etwas wie das gelobte Land, ein Musterstaat, mindestens ebenso gut wie die Schweiz, mit dem einen großen Unterschied, dass man nicht von der Fürsorge einer fremden Nation, sondern von der der internationalen Weltgemeinschaft abhing.

      Mo und Sofia hatten alleine auf der hinteren Bank Platz genommen, und als sie plötzlich von einem jungen Mann mit schwarzem Lockenkopf auf Arabisch angesprochen wurden, zeigte Sofia keine Hemmungen, ein Gespräch mit ihm zu beginnen. Es war eine günstige Gelegenheit, die Glaubwürdigkeit der Story zu testen, die sich Greg McGregor und seine Kollegen für sie ausgedacht hatten. Mo wandte sich jedoch ab und schaute mit vermeintlicher Neugierde angestrengt zum Fenster hinaus, um nicht schon gleich zu Beginn wegen seiner mangelnden Arabischkenntnisse aufzufallen. Sehr bald war die Neugierde nicht mehr gespielt, denn das, was nach einem Kilometer an den Straßenrändern zu beobachten war, faszinierte ihn. Die Ausläufer der UN-City reichten in Form eines bunten Straßendorfs weit über die Grenzen der Stadt hinaus und wirkten wie die verheißungsvolle Ankündigung einer anderen Welt. Die kleinen Läden und Cafés, die sich dicht an der Straße an einen Hang duckten, hatten etwas Behagliches und Einladendes an sich und waren unverkennbar vom Tourismus geprägt. Ihre verspielte und provisorische Bauweise schien in ihrem artifiziell wirkenden Stil eine eigenständige Wirklichkeit zu repräsentieren, die eine Art Bindeglied zwischen Italien und Unity darstellte.

      Rick van de Loo hatte ihnen in Genf die Bedeutung des Tourismus für die Stadt genau erklärt. Es ging nicht nur darum, aus ihm Einnahmen und Spenden für das Flüchtlingsstaat-Projekt zu generieren, sondern auch darum, die Begegnung zwischen Europäern und Flüchtlingen zu fördern. Unity war demnach nicht als ein Lager konzipiert, sondern als eine offene, lebendige Stadt, die sowohl ihren Bewohnern wie auch ihren Besuchern das Recht gewährte, sich frei in ihr zu bewegen und die Grenzen des Flüchtlingsstaates mit nur geringfügigen Kontrollen zu passieren.

      Am Ende der Reihe der kleinen, vorwiegend aus Holz und Felssteinen erbauten Gebäude erwartete sie ein großer Kreisverkehr, der alle ankommenden Fahrzeuge auf verschiedene Parkplätze verteilte. Er markierte das Ende des italienischen Gebietes und leitete die Hauptstraße in einer scharfen Rechtskurve um einen hoch aufragenden, Felsrücken herum, der die Aussicht auf Unity bisher verdeckt hatte. Die sich verbreiternde Straße und ein langes Spalier von Fahnenmasten mit den Flaggen aller UN-Mitgliedsländer ließen die Einfahrt in das Hoheitsgebiet der UN-City wie ein großes, eindrucksvolles Tor wirken, das sich erhaben gegen die Kulisse der majestätischen Alpengipfel absetzte.

      Die UN-Flagge, die wie eh und je auf einem himmelblauen Hintergrund einen weißen, von zwei Olivenzweigen umrahmten Erdkreis zeigte, befand sich am Ende des Spaliers auf einem weiteren, kleineren Kreisverkehr, von dem aus die Stadt plötzlich voll zu sehen war. Ihr Anblick versetzte die Fahrgäste so sehr in Begeisterung und Erstaunen, dass einige aufsprangen und in Jubel ausbrachen. Unity füllte das gesamte Ende des Tales aus und seine Ausläufer reichten ringsherum an den Berghängen bis zur Baumgrenze empor. Seine Silhouette wirkte durch ihre