Susann gehörte damals zur zweiten Gruppe. Ich konnte mich noch deutlich an ihre verzweifelten Versuche erinnern, die Trennung rückgängig zu machen. Briefe, Anrufe, die einsame Gestalt am Mittellandkanal, die dem Frachtschiff hinterherwinkte, auf dem ich damals arbeitete. Mein Blick aus dem Pantryfenster auf dieses chluchzende Häufchen Elend, das an unserer Liegestelle auf einem Poller hockte und verzweifelt darauf hoffte, mich abfangen zu können, sobald ich das Schiff verließ.
Kurze Zeit später hatte ich, nicht zuletzt deswegen, für ein Jahr auf einem Bunkerboot in Frankreich angeheuert und sie komplett aus den Augen verloren.
Einen Moment lang starrten wir uns verlegen an. Auch sie schienen die Erinnerungen plötzlich wie eine Dampfwalze zu überrollen. Auf ihren hohen Wangenknochen erblühten rote Flecken.
»Hi«, brachte ich schließlich über die Lippen, dann mussten wir beide lachen.
»Vergeben?«, ging ich endlich in die Offensive.
»Vergeben und vergessen«, lachte sie, aber ich hörte heraus, dass sie nicht ganz die Wahrheit sagte. Eine verschmähte erste Liebe wirkt manchmal das halbe Leben lang nach, das weiß keiner besser als ich, denn so wie ihr war es mir kein halbes Jahr später mit meiner großen Jugendliebe ergangen. Manchmal gibt es im Leben doch so etwas wie ausgleichende Gerechtigkeit.
Susann sah umwerfend aus, wie sie da vor mir stand, die Hände halb in die Taschen ihrer eleganten schwarzen Jeans geschoben. Groß, schlank, rothaarig und mit leicht verschatteten braunen Augen. Sogar ein paar Sommersprossen hatten sich in ihr Erwachsenenleben hinübergerettet.
Kein Ehering am Finger, soweit ich das erkennen konnte bei ihrem unruhigen Auf- und Abwippen auf den Zehenspitzen.
»Hast du Zeit für einen Kaffee?«
Beinahe hätte ich in dem unwiderstehlichen Bedürfnis, meine Jugendsünden wieder gutmachen zu wollen ja, klar doch gesagt, da fiel mir gerade noch rechtzeitig die vermaledeite Charter wieder ein.
»Geht leider nicht. Ich muss arbeiten.«
»Arbeitest du immer noch als Nautiker?«
»Ja. Das heißt eigentlich nein. Oder besser gesagt nicht nur. Ist schwierig zu erklären. Wohnst du hier, oder bist du nur auf der Durchreise?« Ich merkte selbst, wie verworren ich mich anhörte, und beeilte mich, den Schwachsinn, den ich von mir gab, zu einem versöhnlichen Ende zu bringen. »Sonst könnten wir morgen zusammen etwas trinken gehen?«
Sie wich kurz meinem fragenden Blick aus, und ich hörte förmlich ihre Gedanken kreisen.
»Ich ruf dich an, okay?«
Ein klares Vielleicht, aber mein Gott, hatte ich es anders verdient? War es nicht ein Wunder, dass sie überhaupt mit mir sprach? Trotzdem stockte auch ich kurz. Nicht, dass wir die alten Zeiten kopierten, und ich mir später eine neue Handynummer zulegen musste. Seit damals waren wir allerdings fünfzehn Jahre älter und reifer geworden. Hoffte ich zumindest, als ich ihr meine Nummer diktierte und sie mich von ihrem iPhone anrief, damit ich ihre Nummer abspeichern konnte.
Wir trennten uns mit der gegenseitigen Versicherung des gegenseitigen Anrufens, was sich in meiner Vorstellung irgendwie gegenseitig neutralisierte, und ich schwang mich wieder aufs Mountainbike. In der nächstbesten Drogerie kaufte ich Kerzen und eine Packung Kondome - nur für den Fall der Fälle - und raste zum Anleger zurück.
Auf dem Schiff herrschte große Aufregung. Die Servicekräfte waren nicht erschienen, der Caterer ein Nervenbündel, das wie wild auf seinem Smartphone herumtippte und nach Handynummern suchte, die es anrufen konnte. Kalle deckte noch immer die Tische mit Serviettenkreationen ein, die mich darüber grübeln ließen, ob er Fächer oder Pfaffenhüte hatte falten wollen. Derweil schenkte Lilith Sekt in Gläser und nahm, als sie sich unbeobachtet fühlte, einen kräftigen Schluck aus der Pulle.
Erst als oben schon die ersten Limousinen von der Straße abbogen, stoben wir panisch auseinander, um uns umzuziehen.
Als ich mich im Spiegel betrachtete, starrte mir ein großäugiges Gespenst mit wirren braunen Locken und einem schwarzstoppeligen Kinn entgegen. Die Narbe, die zackig von der rechten Wange zum Hals hinunter verlief, stach hell von der braunen Haut ab. Der Wäschedienst hatte uns mit den Tischdecken und Servietten auch frisch gebügelte Pilotenhemden geliefert, sodass wir wenigstens vom Hals abwärts wie reinliche Nautiker aussahen. Mit den Schulterklappen, vier Streifen, ein Stern, sollte ich auch als Schiffsführer erkannt werden.
Ein paar Wochen Erholung von Hollerbeck sah anders aus. Vielleicht konnte ich im Anschluss an diesen Springerjob eine Reha beantragen.
5
Das Schiff in der Kürze der Zeit von einem Schmuddelkahn in einen Luxusdampfer zu verwandeln, war natürlich illusorisch gewesen. Aber dank unseres, trotz aller Reibereien, harten Arbeitseinsatzes und einer ausgefeilten Planung sah das Schiff auf den ersten Blick - annehmbar aus. Allerdings wirklich nur auf den ersten Blick und nur unter der Voraussetzung, bestimmte Türen nicht zu öffnen.
Deck und Backbordseite des Schiffs waren mit Liliths Hochdruckreiniger bearbeitet worden. Die Steuerbordseite blieb dreckig, weil wir sonst entweder das Beiboot hätten zu Wasser lassen oder das Schiff verholen, sprich hätten drehen, müssen. Da die Steuerbordseite die den Gästen abgewandte Seite war, war dies allerdings unsere geringste Sorge.
Die Charter selbst allerdings begann so katastrophal, wie sie weitergehen sollte. Wir waren zwar auf das Familientreffen eines Barons von Sowieso vorbereitet, nicht aber auf den Dresscode. Smoking und lange Abendkleider, soweit das Auge reichte. Schon allein der Anblick des Weges zum Schiff hinunter zauberte nicht nur den dekolletierten Damen mit ihren High Heels und neusten Pradakreationen einen Ausdruck empörten Widerwillens auf die Gesichter, sondern auch den Herren der Schöpfung in ihren Smokings und blank polierten Lackschuhen.
Dass sie sich trotzdem in Bewegung setzten, musste ihnen unter diesen Bedingungen hoch angerechnet werden. Zurück blieben neben den Limousinen auf dem Randstreifen des unbefestigten Weges oberhalb des Anlegers nur die rauchenden und miteinander schwatzenden Chauffeure.
Unten angekommen hatte trotz aller Raffbemühungen der eine oder andere Kleidersaum sichtbare Bekanntschaft mit dem Matsch gemacht, von den Lackschuhen der Herren ganz zu schweigen. Eine ältere Dame im rosa Rüschenkleid ließ sich ins Hotel zurückchauffieren, weil sie ausrutschte und auf ihrem Allerwertesten landete. Höchstwahrscheinlich war das Thema Schifffahrt damit für den Rest ihres Lebens tabu.
Peinlicherweise war der Caterer mit dem Aufbau des Buffets noch nicht fertig, sodass wir die maulende Gästeschar mit einem Sektempfang auf dem schmalen Streifen des Anlegers abzulenken suchten, der befestigt war. Ohne Stehtische und ohne Hussen, dafür mit Liliths barschen Bitten, bloß nicht ins Wasser zu fallen.
Der erste Eindruck zählt, und der war in diesem Fall grottenschlecht. Dreckige Parkplätze, ein matschiger, mit Schlaglöcher gespickter Weg und ein Schiff, vor dem ein kahlköpfiger Zweimetermensch stand und ihnen den Eintritt verwehrte, während ein Schiffsführer mit Öl unter den Fingernägeln und ein Gruftimädchen mit Waschbärenaugen Tabletts voll Sektgläser durch die Menge trugen und dümmlich lächelten.
Der Charterkunde stellte sich als Charterkundin heraus und war auch kein Baron, sondern eine Gräfin, die mir erbost ins Ohr zischte, sie habe Champagner bestellt, keinen Sekt und werde den Sektempfang daher auch nicht zahlen. Ein Baron von Thoren stellte mir die Reinigungskosten seines Smokings in Aussicht.
Zu diesem Zeitpunkt vermisste der Caterer noch immer seine beiden Servicemädchen. Ein Missverständnis bei der Terminabsprache, wie sich später herausstellte. Mein Hilferuf per Fax an Mathilda blieb unbeantwortet, Bobsie ging nicht ans Handy. Der Caterer erreichte schließlich eins der beiden Mädchen, das dann auch kam, allerdings erst, als die Gäste bereits an Bord waren.
Seismografische Ausschläge künden Erdbeben an, Cumulonimbus-Wolken Gewitter und die säuerlichen Mienen und das Gemaule von hundert reichen Adeligen Ärger, der es möglicherweise bis vor die Schranken eines Gerichtes schaffen konnte.