Wotans Schatten oder Herr Urban und Herr Blumentritt beschimpfen sich. Jo Hilmsen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jo Hilmsen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742782397
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Dieser Schöpfergott musste ein Gott der Ordnung sein. Alles passte zueinander. Es gab feste Strukturen, klare überschaubare Positionen, exakt zugeschriebene Rollen, die Halt, Orientierung und damit Überleben und Wachstum sicherten. Alles in dieser Welt der Ordnung hatte seinen Platz, seine Aufgabe und wenn man so wollte – sein Schicksal. Das galt ebenso für die Fauna, Flora, einen Grippevirus oder für die Spezies Mensch.

      Ah, der Mensch.

      Graf von Wiltberg beschleunigte seine Schritte und sah hinter seiner Gedankenwelt nicht einmal mehr seine botanischen Lieblinge. Leicht waren die meisten Menschen zu bezähmen, wenn man sie nur ausreichend fütterte, und leicht zu manipulieren, wenn man nur genügend Geduld aufbrachte. Und dabei so überflüssig, jedenfalls viele von ihnen. Wie tief gefallen sie doch war, die Spezies Mensch. Verdorben im materialistischen Kollektivismus, gefangen in niederen Instinkten und frei von der Sehnsucht im Streben nach Höheren. Immer weiter entfernte der Mensch sich von der inneren Welt, mutierte vom Gottmenschen zum Tiermenschen mit all seinen Verfehlungen und Vermischungen. Aber eines Tages würden diejenigen zurückkehren, diejenigen, die es noch in sich spürten, die Erinnerung an das verloren gegangene göttliche Leben, wenn die Erde erst einmal umgestaltet war.

      Denn es gab nur eine Wahrheit. Und die lautete: Wotan-Luzifer – der große Schöpfergott und Ordner dieser Welt.

      Inzwischen war Graf von Wiltberg auf seiner Wanderung in der unteren Etage angekommen, im Foyer.

      Der kühle Marmorboden tat gut, denn der Graf war barfuß durchs Haus gewandert. Demütig, wie er es bezeichnen würde. Ganz im Sinne eines Pilgers, dem eine große Last auferlegt worden war. In diesem Fall: die Last, eine Entscheidung treffen zu müssen.

      In diesem Moment klingelte das ganz spezielle Handy. Die Nummer dieses Handys besaßen nur diejenigen, die für den Grafen Aufträge erledigten oder Vertraute, die Anwärter für seine Aufträge anwarben. Angeworbene, die man leicht für kleinere Dienste einsetzen konnte. Unbekannte, die für den schnellen Euro keinerlei Risiken scheuten und einen ganz bestimmten, äußerst wichtigen Pulk von niederem Fußvolk bildeten, über die er jederzeit verfügen konnte.

      Dieses System hatte bislang tadellos funktioniert. Die Unbekannten besaßen quasi keinerlei Informationen über das, was und wofür sie etwas taten, außer diese eine Handynummer, die nach jedem Auftrag ausgetauscht wurde. Auch für den Kauf der Prepaid Karten gab es andere Unbekannte, die nur ihren Namen unter den Kaufvertrag setzen mussten, sonst nichts. Damit war sichergestellt, sollte es je zu einem Missgeschick oder gar zu einem Problem kommen, dass der eigentliche Auftraggeber nicht zurück verfolgbar war. Eine Sicherheitsmaßnahme, die für Graf von Wiltberg lebenswichtig war. Schließlich ging es hierbei nicht um irgendetwas, sondern um eine Idee. Eine Neuordnung.

      Der Graf ließ das Handy klingeln und betrachtete das Display, bis das Klingeln verstummte. Dann wählte er die Nummer, die auf dem Display erschienen war.

      Nach wenigen Minuten war ein neuer Kurier rekrutiert. Eine Sache war gelöst, zwei Unbekannte ausgetauscht, der Zeitplan damit eingehalten. Etwas blieb: die Befehlsverweigerung des alten Kuriers und das Problem mit dem jüdischen Journalisten.

      Für die Schande der Verweigerung kam ihm eine Idee.

      Graf von Wiltberg ging nach oben zu seinem Schreibtisch, kramte eine Weile und wählte dann die Nummer, die auf einer nicht sonderlich ansprechenden Visitenkarte stand. Nach dreißig Minuten erschien der Klempnermeister persönlich.

      „Guten Tag, Herr Graf“, begrüßte ihn Klempnermeister Schmidt. „Sie haben mir ausrichten lassen, dass Sie einen Auftrag für mich hätten. Und da ich gerade in der Gegend war, dachte ich, ich schaue gleich persönlich bei Ihnen vorbei. Was kann ich für Sie tun?“

      „Das ist sehr freundlich von Ihnen, Herr Schmidt“, antwortete von Wiltberg lächelnd. „Aber kommen Sie erst einmal herein. Darf ich Ihnen vielleicht eine Tasse Tee anbieten?“

      „Gern.“

      „Nehmen Sie Platz“, sagte von Wiltberg und wies auf einen Sessel im Foyer. Auf einem kleinen Tisch duftete bereits eine Kanne mit Earl Grey. Freiherr Graf von Wiltberg goss dem Klempnermeister und sich selbst eine Tasse ein und schlug die Beine übereinander.

      „Wie geht es der Familie? Was macht Ihr Sohn? Hat er sich endlich dazu entschlossen, eine Lehre in Ihrer Firma anzufangen?“

      Klempnermeister Schmidt nahm einen Schluck und lehnte sich bequem zurück. Dann winkte er ab. „Ach, wissen Sie, der Kevin hat so seine Flausen im Kopf. Will unbedingt Abitur machen und dann ein Jahr im Ausland verbringen wenn möglich. Sie wissen doch, wie die jungen Leute heutzutage sind.“ Freiherr Graf von Wiltberg nickte verständnisvoll. „Dabei sag ich immer: Junge, lerne erst einmal etwas Solides, wenn du schon bei mir keine Lehre machen willst. Zimmermann zum Beispiel. Geh auf die Walz, da lernst du ´ne Menge Leute kennen und weißt vielleicht danach das deutsche Handwerk zu schätzen. Man muss doch nicht gleich nach England oder gar nach Amerika gehen. Unser Land ist doch auch schön. Nicht wahr. Aber ich kann mir den Mund fusselig reden. Die Jungen haben ihren eigenen Kopf. So was gab es zu meiner Jugend nicht. Da war es selbstverständlich, dass man in die Fußstapfen des Vaters trat. Nun ja. Ansonsten will ich mich nicht beklagen.“ Freiherr Graf von Wiltberg hatte zugehört, den Kopf geschüttelt und Zustimmung signalisiert. Nun räusperte er sich.

      „Herr Schmidt, ich habe ein Problem. Und es handelt sich um einen Notfall“,

      „Für so was bin ich doch da, Herr Graf.“

      „Das ist gut, Herr Schmidt.“ Klempnermeister Schmidt wippte ein wenig nervös mit den Knien. „Wissen Sie Herr Schmidt, die Angelegenheit ist mir ein bisschen peinlich.“ Freiherr Graf von Wiltberg räusperte sich abermals und warf seine Augenbrauen empor. Schmidt wartete gespannt.

      „Also, da gibt es diesen jungen Mann, der gelegentlich ein paar Gartenarbeiten für mich erledigt. Und heute ruft er mich an, weinend, weil seine Toilette nicht mehr so funktioniert, wie eine Toilette eben zu funktionieren hat.“ Freiherr Graf von Wiltberg schaute irgendwohin und Klempnermeister Schmidt folgte seinem Blick. „Wie soll ich sagen“, fuhr er fort, hielt aber wieder inne.

      „Ihm fliegt die Scheiße um die Ohren“, konstatierte der Klempnermeister.

      „Richtig. Sehr treffend ausgedrückt, Herr Schmidt.“

      Klempnermeister Schmidt verkniff sich ein Lachen.

      „Nun ja, und deswegen konnte er heute nicht den Rasen mähen. Ich weiß, dass sich dieser Mann Ihre Dienste nicht leisten kann, und handwerklich ist er, sagen wir mal etwas unbegabt. Allerdings ein guter Gärtner, zweifellos.“

      Klempnermeister Schmidt nickte. Diese Art von Problemen war ihm hinreichend vertraut.

      „Also, ich dachte“, fuhr Graf von Wiltberg fort, „ dass Sie dort einfach hinfahren, das Ärgernis aus dem Weg räumen, und mir dann die Rechnung schicken. Könnten Sie das für mich erledigen?“

      „Selbstverständlich“, Herr Schmidt nickte abermals.

      „Allerdings möchte ich Sie bitten, dass Sie meinen Namen auf keinen Fall erwähnen. Dieser junge Mann würde niemals Hilfe von mir in Anspruch nehmen. Sagen Sie ihm einfach, die Gemeinde habe Sie geschickt und würde die Rechnung übernehmen.“

      „Gern.“

      „Heute?“

      „Natürlich.“

      „Wunderbar. Ich danke Ihnen, Herr Schmidt.“

      Freiherr Graf von Wiltberg nannte den Namen und Anschrift seines ehemaligen Kuriers, und Schmidt machte sich sorgfältig Notizen.

      Als Klempner Schmidt schon in der Tür stand, um sich auf den Weg zu machen, hielt von Wiltberg noch einmal wie in Gedanken inne. So, als hätte er gerade einen spontanen Einfall. In der Tat fasste sich der Graf kurz mit dem Zeigefinger an die rechte Schläfe und malte dann einen Kringel in die Luft.

      „Warten Sie“, sagte er zu dem überraschten Klempner. „Würden Sie mir noch einen Gefallen tun, Herr Schmidt? Einen kleinen…“

      „Selbstverständlich.“