Wotans Schatten oder Herr Urban und Herr Blumentritt beschimpfen sich. Jo Hilmsen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jo Hilmsen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742782397
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war aus der entgegengesetzten Richtung gekommen. Die beiden Fahrzeuge standen nebeneinander und der Fahrer saß jetzt quasi neben ihm.

      Die getönte Scheibe senkte sich und ein Mann stülpte seinen Ellenbogen heraus.

      Benjamin Krause wagte nicht zu atmen, sondern reagierte nur mit einem sprachlosen Zwinkern.

      Hinter dem Ellenbogen erschien ein Gesicht. Es war viel jünger, als es Benjamin erwartet hätte. Das Gesicht eines jungen Mannes in seinem Alter, der irgendwie genauso nervös wirkte wie er selbst es war.

      „Bist du Benjamin Krause?“

      „Ja.“

      „Ich habe den Auftrag, dir etwas zu übergeben.“

      „Hm.“

      Sie musterten sich gegenseitig. Keiner von Beiden hatte eine Ahnung, welche Rolle der andere spielte. Also taten sie so, als wäre die eigene Rolle die Wichtigere.

      Gerade als Benjamin Krause eine Frage stellen wollte, randalierte sein Handy in der Hosentasche. Mechanisch zog er sein Sony Ericsson aus der Tasche und klappte es auf.

      „Ha, ich wusste, dass du nicht zu Hause bist und dich irgendwo rumtreibst“, ertönte es im Hörer vorwurfsvoll. Corinna Baumgart. Benjamin legte seine Stirn in Falten.

      „Bei einer posttraumatischen Belastungsstörung empfehlen die Ärzte sogar ausgiebige Spaziergänge“, konterte er und schielte gleichzeitig hinüber zu dem jungen Mann im schwarzen BMW.

      „Sekunde“, sagte er schnell in dessen Richtung, und der junge Mann nickte als Antwort.

      „Eine was?“, fragte unterdessen Corinna. Bei einer Frau wie ihr trafen alle Blondinen-Witze irgendwie zu, als wären sie reale Erzählungen.

      „Corinna, ich habe jetzt keine Zeit, dir das zu erklären. Warum rufst du mich an?“

      Benjamin hatte sich sofort geärgert, als er den Anruf entgegen genommen hatte, nun schalt er sich einen unverbesserlichen Blödmann.

      „Mandy hatte einen ziemlich furchtbaren Durchfall heute Nacht. Deswegen rufe ich an… Möglicherweise muss sie in die Klinik.“ Ihr kurzes darauf folgendes Schweigen sollte auf theatralische Weise dieses Unglück dramatisieren und ihren Vorwurf dadurch bekräftigen.

      „Oh“, entfuhr es Benjamin Krause. Mandy war eine siebzehnjährige Schwerstmehrfachbehinderte aus der Mäusegruppe, die weder sprechen noch laufen konnte. Ein Mensch, der nur durch seine Augen sprach. Hübsch, trotz ihrer schweren Behinderung. „Oh“, sagte er noch einmal. „Das tut mir leid. Oje…“ Sein Bedauern war aufrichtig, wenngleich nicht ganz selbstlos.

      „Ich wollte dir nur sagen, dass dies eine schwere Belastung darstellt, und wir dich hier brauchen, trotz deines postdramatischen Belastungsdingsbums.“

      „Natürlich, Corinna. Selbst bei hohem Fieber würde ich kommen.“

      „Gut.“

      „Grüße alle von mir, besonders Herrn Jungmann.“

      Ein bisschen Zynismus tat ihm jetzt gut. Corinna verstand nicht.

      „Wieso Herrn Jungmann?“, fragte sie.

      „Egal. Bis später.“ Benjamin Krause klappte das Handy zu und schob es zurück in seine Hosentasche. Sein Gegenüber grinste.

      „Wer war´n das?“

      „Meine Vergangenheit“, Benjamin grinste zurück. „Lass uns zurück zum Jetzt kommen. Was hast du für mich?“

      Der junge Mann stieg aus und ging zum Heck des BMW. Er öffnete den Kofferraum und entnahm ihm einen silberfarbenen Koffer, der nicht besonders schwer zu sein schien. Benjamin kletterte ebenfalls aus seinem Auto und ging langsam zu dem Mann. Der reichte ihm den Koffer.

      „Hier, die Ware.“

      „Das ist alles?“, beschwerte sich Krause verdutzt. „Deswegen sollte ich extra einen geschlossenen Caddy mieten?“ Der Mann zuckte als Antwort mit den Schultern, dann entblößte er mit einem weiteren breiten Grinsen die Reihen nicht ganz tadelloser Zähne.

      „Egal“, antwortete er. „Jedenfalls bringst du die Ware nach Hengelo in den Niederlanden. Hier hast du die Lieferanschrift.“ Der junge Mann reichte Benjamin Krause einen Zettel.

      „Ich gebe dir fünf Minuten, um dir die Adresse einzuprägen, danach wirst du den Zettel vernichten. Der Adressat wird dir die Ware abnehmen und etwas anderes mitgeben. Morgen um die gleiche Zeit treffen wir uns wieder an dieser Stelle. Erst dann kriegst du die Kohle. Alles verstanden?“

      Benjamin nickte. Wie von ihm verlangt wurde, prägte er sich Namen und Anschrift ein, zerriss den Zettel und gab die Papierfetzen dem jungen Mann zurück. Beinahe hätte er gefragt, was sich denn in dem Koffer befände, biss sich aber Gott sei Dank noch rechtzeitig auf die Lippen. Dass er für fünftausend Euro keine Kollektion Unterwäsche hin- und hertransportierte, verstand sich von selbst. Illegalität hat seinen eigenen Reiz, und Benjamin verspürte ein leichtes Kribbeln.

      „Also dann bis Morgen.“ Er zwinkerte seinem Gegenüber zu, diesmal wesentlich entspannter, schnappte sich den Koffer und stieg zurück in den Mietwagen.

      Während er den Motor startete, wiederholte er immer wieder murmelnd die Adresse, die auf dem Zettel stand.

      Die nächsten 500 Kilometer sollte er sie vor sich hinmurmeln. Exakt solange, bis die Katastrophe ihren Anfang nahm.

      Kapitel 11

      Winfried Urban und Werner Blumentritt saßen wie üblich am Fenster in der ersten Etage des Behindertenwohnheims und beschimpften sich.

      „Du Wasserkübel“, sagte Winfried Urban gerade, und Herr Blumentritt antwortete laut kichernd.

      „Du Kaffeemaschine.“

      Auf den Hof rollte ein Auto mit zwei blauen Lichtern auf dem Dach wie Winfried Urban registrierte. Irgendetwas sollte ihren Alltag bereichern. Während des Sommerfestes letzten Jahres hatte schon einmal ein ähnliches Auto im Hof gestanden. Er und Karl-Heinz – für den er den Übersetzer spielte – waren als Ehrengäste geladen. Sie durften an verschiedenen Knöpfen drücken und zuhören, wie lautes Gelärm plötzlich den Hof erschallte. Das war aufregend und gleichzeitig bedrohlich. Lange brauchte er, um sich später zu beruhigen. Es war, als ob plötzlich die ganze Welt in ihrem kleinen Hof schreien würde. Nicht auszudenken, was das in der unteren Etage für Verwirrungen zu stiften vermochte. Die konnten nicht so einfach weglaufen, das wusste Herr Urban.

      Aus dem Wagen stiegen zwei Polizisten, wie Herr Urban sah. Er klopfte mit seinem Zeigefinger an das Fenster und winkte. Die Polizisten reagierten nicht darauf. Der eine musterte die Eingangstür, der andere ruckelte seine Hose zurecht, die ihm fast über seinen Hintern gerutscht war. Herr Urban lächelte nachsichtig, denn so etwas passierte ihm andauernd. Meistens ruckelte ihm die Frau Corinna seine Hose wieder richtig. Er drückte seine Nase an der Scheibe platt und versuchte es noch einmal mit der Scheibenklopferei. Dann überlegte er kurz nach unten zu gehen, um vielleicht den Hof wie beim Sommerfest mit dem lauten Gelärm zu beschallen. Dabei fiel ihm ein, dass ihm dies ja ziemlich bedrohlich erschienen war. Also blieb er besser sitzen und starrte weiter in den Hof. Aus dem Mastbullenstall kamen gerade der Lutz und der Mathias. Die Beiden wankten mit ihren Gummistiefeln, deren Sohlen mit einer zentimeterdicken Schicht beschwert waren. Auch nach dem gründlichen Spülen in der Stallküche stanken die Stiefel noch nach Bullenmist. Und die Stallküche stank ohnehin nach Bullenmist.

      Herr Blumentritt stand auf und stapfte davon, weil ihm nicht mehr geantwortet wurde.

      Und nun tat Herr Urban etwas, was er so gut wie nie tat. Er ging den langen Flur entlang und schließlich zur Treppe. Stieg hinab und befand sich just am Ausgang. Er öffnete die Tür. Ein Wind aus frischer Luft und einem Hauch von Kuhkacke schlug ihm entgegen. Vertrauter Geruch eigentlich. Und plötzlich passierte etwas, was er sich vor ein paar Tagen noch gar nicht hätte vorstellen können. Herr Urban schaute sich um und entdeckte