Wotans Schatten oder Herr Urban und Herr Blumentritt beschimpfen sich. Jo Hilmsen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jo Hilmsen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742782397
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      Corinna drehte den Schreibtischstuhl in seine Richtung und lächelte spöttisch. „Möglich. Wieso?“

      Der kleine Stich wurde größer. Tapfer ignorierte Benjamin die innere Temperaturerhöhung. Dieses Thema musste jetzt warten. „Ach, Scheiße. Ich kann wirklich nicht am Wochenende arbeiten!“

      „Beschwer dich beim Chef!“

      „Das werde ich, kannst dich drauf verlassen!“

      Ums Verrecken hätte Benjamin Krause diese Ankündigung wahr gemacht. Jungmann war das allergrößte Übel und sein persönlicher Albtraum.

      In dem Moment dröhnte die ihm verhasste Stimme ganz nah. „Herr Krause! Kommen Sie doch bitte nachher noch mal in mein Büro!“ Jungmanns roter Schopf erschien kurz in der Tür des Dienstzimmers und verschwand so schnell wie er gekommen war.

      Es war immer dasselbe. Wenn man es wagte, Jungmann irgendwo im Haus mit einer Frage zu belästigen, hieß es: Kommen Sie doch bitte nachher in mein Büro! Wenn Jungmann etwas gefunden hatte, was seinen Unmut regte, hieß es: Kommen Sie doch bitte nachher in mein Büro.

      Corinna warf schnippisch ihren Kopf zurück und schwieg.

      Die Tür zu Jungmanns Büro war geschlossen, und Benjamin gezwungen, anzuklopfen. Ein unumstößliches Gesetz!

      „Herein!“

      Jungmann thronte hinter seinem Schreibtisch. Telefon, Faxgerät, Monitor, Drucker. Der einzige Computer in der gesamten Einrichtung befand sich in diesem Raum. Der Abstand zwischen dem Stuhl vor Jungmanns Schreibtisch und ihm selbst war so groß, dass man mit Speer oder Lanze bewaffnet hätte sein müssen, um an ihn heranzukommen. Spucken ginge vielleicht noch, aber dazu müsste man die Spucke von weit unten holen.

      „Haben Sie sich schon einmal beobachtet, Herr Krause?“

      Benjamins Hände badeten sogleich im Schweiß. „Wieso?“

      „Weil Sie bei Ihrer Arbeit eine ähnliche Geschwindigkeit an den Tag legen wie unser Herr Blumentritt.“ Jungmann fand diese Bemerkung offenbar witzig. Seine magere Gestalt straffte sich, er grinste. Seine abstehenden Ohren bekamen Farbe.

      „Ich...“

      „Ich“, wiederholte Herr Jungmann gedehnt. „Genau das ist der springende Punkt. In meiner Einrichtung geht es nicht um Sie, sondern um die Menschen, die hier leben. Haben Sie sich darüber schon einmal Gedanken gemacht?“

      Töten, dachte Benjamin, eines Tages knall ich diese selbstgefällige Drecksau ab. Töten oder spucken.

      „Was habe ich denn getan?“

      „Sie sollten besser fragen, was Sie nicht getan haben.“

      Benjamins Unterlippe bebte. Gleich würde sich das Beben über seinen ganzen Körper fortpflanzen. Das spürte er. Er biss sich auf die Lippen und schwieg. Jungmann wartete nicht auf eine Antwort.

      „Zum einen schulden Sie mir noch einen Entwicklungsbericht.“

      „Der ist...“

      „Zum anderen“, unterbrach ihn Jungmann, „was haben Sie gestern Abend die ganze Zeit im Gemeinschaftsraum gemacht? Ferngesehen?“

      „Ich habe mit Stephan Grube über ein Problem in seiner Werkstatt gesprochen. Es gab dort eine Unstimmigkeit wegen...“

      „Dafür gibt es den Besprechungsraum oder das Dienstzimmer...“ Benjamin nahm seinen ganzen Mut zusammen.

      „Herr Jungmann, im Dienstzimmer arbeitete Frau Baumgart am Gruppenkonzept und den Besprechungsraum halte ich für diese Dinge ein bisschen übertrieben. Ich meine, das war doch nur ein Gespräch.“

      „Ein Gespräch? Aha. Was glauben Sie, was man in einem Besprechungsraum sonst macht. Kreuzworträtsel lösen?“

      „Ich…“

      „Wissen Sie, wenn Sie eines Tages eine Einrichtung wie diese leiten, können Sie gern alles anders machen, aber solange ich hier die Leitung habe, halten Sie sich bitte an die Regeln. Einen guten Tag!“

      Das Gespräch war beendet. Benjamin war nicht einmal dazu gekommen, Jungmann auf das nächste Wochenende anzusprechen.

      Raus hier, dachte er. Nichts wie weg! Dann lasse ich mich halt krankschreiben.

      Am Eingang hockte Ralf immer noch neben dem schnurrenden Kater und kraulte ihm den Bauch.

      „Das gefällt Ihnen, Felix. Jaja, das gefällt Ihnen!“

      In der ersten Etage saßen sich Herr Blumentritt und Herr Urban am großen Fenster gegenüber, von wo man gut den Hof einsehen konnte.

      „Du Nulpe“, krächzte Herr Urban und betrachtete kurz sein Gesicht, das sich in der Fensterscheibe spiegelte.

      „Du…Teelöffel.“ Herr Blumentritt hielt sich einen grellroten Papierschnipsel dicht an die Augen. Seine Unterlippe war vorgewölbt und reichte fast bis zur Nasenspitze.

      „Du Milchkanne!“

      „Du Wischmopp!“ Beide brüllten vor lauter Spaß. Karl-Heinz kam auf sie zu getorkelt. Sein Körper wurde gelegentlich wegen seiner Zerebral-Parese geschüttelt. Von zerebralen Paresen hatte Herr Urban zwar keine Ahnung, dennoch war er voller Mitgefühl. Außerdem mochte er den Spastiker. Und wenn Karl-Heinz sprach und die Erzieher mal wieder Bahnhof verstanden, übersetzte er geduldig.

      Winfried Urban – der Dolmetscher.

      Herr Urban berührte mit der Stirn das kühle Glas der Fensterscheibe.

      „Ah, der Herr Benjamin fährt wieder.“

      Benjamin Krause spürte wie die Tatsache, vollkommen umsonst hierher gefahren zu sein, langsam in seinen Eingeweiden zu wüten begann.

      Entsprechend geladen startete er seinen Wagen und ließ die Reifen beim Anfahren durchdrehen. Damit lieferte er Jungmann einen Grund, ihn zum nächsten Büromeeting zu rufen. Er hörte schon seine Stimme.

       Kennen Sie eigentlich die Straßenverkehrsordnung auf diesem Gelände?

      Scheiß drauf, dachte Benjamin und brauste Richtung Hirschfelde davon, ohne einen Blick auf das Zittauer Gebirge zu werfen, das sich gerade majestätisch im Sonnenlicht präsentierte.

      Kapitel 4

      Alles, was Karl bislang an Beute gemacht hatte, ließ sich an einer Hand abzählen. Einen Vertiko aus den Zwanzigern – reparaturbedürftig, einen schmiedeeisernen Garderobenständer – an manchen Stellen angerostet, zwei ganz brauchbare Stühle und einen Plattenspieler aus den Sechzigern – dessen Funktionstüchtigkeit noch überprüft werden musste. Karls weißer geschlossener Peugeot Boxer mit der Aufschrift Ramsch & Plunder, Berlin war fast leer.

      Karl Munkelt seufzte, dann ließ er seinen Blick über den nächsten Sperrmüllhaufen wandern. Nichts, was in irgendeiner Weise sein Interesse weckte. Er ging zurück zu seinem Transporter und startete den Motor.

      Es war kurz nach Sechs. In den meisten Häusern dieses Viertels wurde noch geträumt, vielleicht gevögelt oder geschnarcht. Für die Besitzer dieser Vorstadtidylle mit ihren Reihenhäuschen und den kleinen dazugehörigen Gärten begann der Tag in der Regel später. Dem Mittelstand vor den Toren Berlins ging es wirtschaftlich nicht übel. Größtenteils wohnten hier Besitzer kleiner Firmen, Ärzte, Apotheker oder Lehrer mit ihrem Anhang. Fast alle Häuser waren neu oder entsprechend aufgepeppt.

      Karl Munkelt hatte sich einiges erhofft, als er seinen Lieferwagen hierher gelenkt hatte. Seit einer Stunde jedoch kurvte er von Enttäuschung zu Enttäuschung.

      Offensichtlich verramschten die Leute hier die besseren Sachen lieber selbst. Alles, was sich auf den Häufchen stapelte, stammte von Quelle, Neckermann oder bestenfalls von IKEA. Altlasten vermutlich, bevor es wirtschaftlich bergauf gegangen war. Unbrauchbarer Müll.

      Neuerdings