„Wie, eingebrochen?“, fragte Bernd verwundert, als hätte er das erste Mal in seinem Leben das Wort Einbruch gehört. Ein bisschen begriffsstutzig war Bernd schon gewesen, bevor er angefangen hatte methodisch zu kiffen. Seitdem schienen allerdings die Worte erst per E-Mail über einen überlasteten Server in das Verarbeitungszentrum seines Gehirns zu gelangen. Benjamin beschränkte sich auf überschaubare Botschaften.
„Klamotten, Fernseher, PC, alle CDs. Weg!“
Bernd brauchte ein bisschen. „Auch die mitgeschnittenen von der Fusion?“
„Auch die.“
„Scheiße!“
„Im wahrsten Sinne des Wortes... Hör mal, ich muss jetzt erst einmal alles durchchecken und sehen, ob unsere Probeaufnahmen ebenfalls geklaut worden sind. Möglicherweise müssen wir unsere Reise sogar verschieben. Du verstehst?“
„Die sind doch auf DVD. Und waren versteckt. Oder?“
„Ja, Bernd. Aber alle meine Schränke wurden durchwühlt. Vielleicht haben die einfach alles mitgehen lassen.“
„Verdammt!“
Seine Hand an der Stirn fasste fester zu. Die andere Hand am Handy erschlaffte. Benjamins Blick schweifte über das hinterlassene Chaos im Zimmer. Die Türen seines Sekretärs standen offen. Im Moment war es für ihn schwer zu beurteilen, ob dort etwas fehlte. Er wusste, dass seine wichtigsten Papiere im obersten Schubfach lagerten. Die DVD von den Probeaufnahmen hatte er sorgsam in einem Schuhkarton versteckt, in dem sich neben alten Liebesbriefen ein Pornoheft und ein Nacktkartenspiel befanden. Erst schoss ihm die Röte ins Gesicht, dann keimte ein bisschen Hoffnung. Er entdeckte den Schuhkarton. Der Schuhkarton war geschlossen.
Bernd schien die ganze Zeit über etwas zu grübeln. „Und wenn die Bullen...? Ich meine, wenn die Bullen da rumgewühlt haben?“
„Bernd! Was für ein Unsinn.“
„Ach ja?“
„Das ist Quatsch!“
Im Zimmer war es für Benjamins Geschmack gerade ein bisschen zu still. Gern hätte er jetzt einen seiner neuesten gebrannten Techno-Beats dröhnen lassen, nur fehlte dazu beides: Die CDs und der Player.
„Diese Mistkerle!“, entfuhr es ihm und Bernd schien am anderen Ende zu nicken.
Kapitel 6
Karl Munkelt hatte sich den Umweg zu seinem Lager gespart und war direkt zu seinem kleinen Laden in die Schönhauser Allee gefahren. Seine Wohnung befand sich zwei Stockwerke über den Verkaufsräumen und das war gleichermaßen Fluch und Segen.
Die Bilanz seines Ausfluges in dieser Herrgottsfrühe waren ein Telefon, ein Vertiko, ein Garderobenständer, zwei Stühle, ein Plattenspieler, ein Koffer unbekannten Inhalts, ein verloren gegangener nagelneuer Turnschuh und der grässliche Augenblick gespürter Todesangst.
Genug für einen Tag, dachte Karl, als er seine Wohnung auf Socken betrat. Unterm Arm trug er den Aktenkoffer. Den Rest, inklusive seines jetzt nutzlos gewordenen Turnschuhs, hatte er im Lieferwagen zurückgelassen.
Als Erstes brauchte er einen Kaffee und den möglichst stark. Karl bestückte die Kaffeemaschine und schaltete sie ein. Nebenher schob er eine Scheibe Körnertoastbrot in den Toaster und stellte Margarine und Nutella bereit. Sein zweites Frühstück. Inzwischen war es kurz nach Acht. Um Neun würde er runter in seinen Laden gehen müssen, spätestens halb Zehn. Um Zehn begann seine Geschäftszeit.
Der Kaffee war durchgelaufen, das Toastbrot goldbraun. Karl bestrich die Scheibe mit einer ein Zentimeter dicken Nutellaschicht und überlegte beim Hineinbeißen, ob er sich gleich des Koffers annehmen sollte oder erst am Abend.
Angesichts des morgendlichen Desasters brauchte er dringend ein Erfolgserlebnis, soviel stand fest. Um sich mit diesem grässlichen Morgen zu versöhnen, wäre es vielleicht hilfreich, dass der Inhalt dieses Koffers ein Erfolgserlebnis enthielt. Oder dass es ihm wenigstens gelang, ihn geschickt zu öffnen.
Karl nahm einen kräftigen Schluck Kaffee, schlang den restlichen Toast hinunter und legte den schwarzen Delsey auf den großen Esstisch, der vor dem Fenster stand.
Der lange, gelb-stählerne Wurm der U2 rauschte auf Augenhöhe hinter dem Fenster in Richtung Eberswalder Straße vorbei. Ein Schwarm Tauben machte sich auf den gleichen Weg.
Karl untersuchte die Kofferschlösser. Zunächst probierte er einfache Zahlenkombinationen. 1,2,3,4; 4,3,2,1; 2,3,4,5; 5,4,3,2, usw. Menschen waren in solchen Dingen meist fahrlässig einfallslos.
Fehlanzeige. Aber nicht unlösbar. Dann versuchte er es mit Daten. 01.01., 21.12.; 02.02.,30.11… etc. Der Koffer blieb verschlossen. Karl warf einen kritischen Blick auf den Koffer und versuchte andere Kombinationen. Vergeblich. Die Möglichkeit, seine Werkzeugtasche zu holen, blieb immer noch. Doch Karl entwickelte nun einen gewissen Ehrgeiz. Rätsel zu lösen, war eines seiner Hobbys. Es blieben ihm noch satte fünfzig Minuten Zeit, bevor er nach unten in den Laden musste.
Plötzlich hatte er eine bessere Idee. Karl ging zu seinem Küchenschrank und öffnete die oberste Schublade. Das, wonach er suchte, lag dort, wo er es vor ein paar Monaten achtlos abgelegt hatte: ein Stethoskop. Ein Fundstück wie die meisten Dinge in seiner Küche, abgesehen von dem Glaskeramik-Herd, den er nagelneu erworben hatte. Karl stopfte sich die beiden Ohrbügel des Stethoskops in die Ohren und legte die Membran des metallenen Schalltrichters ans Schloss des Koffers und drehte.
Drehen, lauschen, drehen. Drehen, lauschen, drehen. Klick, es war gar nicht so schwer. Er musste einfach nur die Ohren spitzen. Drehen, lauschen, drehen. Klick.
Nach fünf Minuten stand die Zahlenkombination für ihn fest. 1.2.1.2. Wie Karl vermutet hatte, waren die meisten Leute bei diesen Dingen fahrlässig einfallslos. Karl nahm die Stöpsel aus den Ohren und ließ die Schlösser klacken. Der Koffer ließ sich problemlos öffnen. Bingo!
Karl war nun derart im Entdeckungsfieber, dass er vor Aufregung blinzelte. Er öffnete so vorsichtig den Deckel des Delsey, als würden ihm gleich Fünfhundert-Euro Scheine entgegen purzeln, oder Diamanten… versteckt in Tupperdosen.
Doch statt in schallenden Jubel auszubrechen, brach ihm der kalte Schweiß aus. Sein erster Blick streifte einen Haufen Videokassetten. Was für eine Enttäuschung! Aber für dieses Gefühl blieb keine Zeit. Sein zweiter Blick blieb an einem Draht, einem Kurzzeitwecker und einem länglichen Stab hängen. Der Stab hatte verdammte Ähnlichkeit mit einer Stange Dynamit aus irgendeinem dämlichen Western.
Stab, Draht, Kurzzeitwecker…
Diese Stange war Dynamit und der Kurzzeitwecker würde genau eine Minute ticken und dann klingeln. Und wahrscheinlich samt Koffer und Küche explodieren.
Ein Schauder überlief ihn, weit schlimmer als der während des Kampfhundgeknurres am Morgen. Sein erster Impuls war, den Koffer aus dem Fenster zu werfen und schreiend das Weite zu suchen. Dem folgte Verantwortungsgefühl… und dann Panik.
Karls Augen weiteten sich und unter seinen Achseln wurde es feucht. Dann stürzte er zum Küchenschrank. Zum Glück brauchte er nicht lange zu wühlen. Die Kneifzange lag ganz oben. Inzwischen waren vielleicht zwanzig Sekunden vergangen. Zurück beim Koffer, hieß es jetzt eine Wahl treffen. Rot oder Blau? Jeder blöde James Bond Streifen bemühte wenigstens eine solche Szene. Rot oder Blau? In der Regel schafften es James oder jemand anderes in der letzten Sekunde. Nur, hier in der Schönhauser Allee wurde nicht gedreht! Es gab kein Set und keinen Catering-Wohnwagen, die einen Imbiss und heißen Tee anboten oder vielleicht Whiskey für den gestressten Regisseur. Rotes oder blaues Kabel – diese Entscheidung wurde jetzt zu seiner ganz persönlichen Hamlet-Frage. Sein oder nicht sein.
Rot, dachte Karl. Blau? Und schnitt mit zugekniffenen Augen beide Kabel gleichzeitig durch.