Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Zweiter Teil. Gustav Schwab. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gustav Schwab
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742772916
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versöhnt die Lippen zum Kusse reichte. ‐

       Auf dem Kampfplatze durchstürmte Menelaos noch immer wie ein Raubtier das Heer, den

       verschwundenen Paris ausspähend: aber weder ein Trojaner noch ein Grieche konnte ihm den

       Fürsten zeigen, und doch hätten sie ihn gewiß nicht verhehlt, denn er war beiden zuwider wie der

       Tod. Endlich erhob Agamemnon seine Stimme und sprach: »Höret mein Wort, ihr Dardaner und

       Griechen! Menelaos ist der offenbare Sieger. So gehet uns denn jetzt Helena samt den Schätzen

       zurück und bezahlet uns für alle Folgezeit einen Tribut!« Die Argiver nahmen diesen Vorschlag mit

       Jubel auf, die Trojaner schwiegen.

       Drittes Buch

       Pandaros

       Auf dem Olymp war eine große Götterversammlung: Hebe wandelte an den Tischen umher und

       schenkte Nektar ein. Die Götter tranken einander aus goldenen Pokalen zu und schauten auf Troja

       nieder. Da ward von Zeus und Hera Trojas Untergang beschlossen. Der Vater der Götter wandte sich

       zu seiner Tochter Athene und befahl ihr, auf den Kampfplatz hinabzueilen und die Trojaner zu

       versuchen, daß sie die auf ihren Sieg stolzen Griechen wider den Vertrag zu beleidigen anfingen.

       Pallas Athene mischte sich sofort unter das Getümmel der Trojaner, nachdem sie die Gestalt des

       Laodokos, der ein Sohn Antenors war, angenommen. In dieser Verhüllung suchte sie den Sohn

       Lykaons, den trotzigen Pandaros, auf, der ihr zu dem Werke geschickt schien, das ihr der Vater

       aufgetragen. Dieser war ein Verbündeter der Trojaner und aus Lykien mit seiner Heerschar

       hergekommen. Die Göttin fand ihn bald, in der Mitte der Seinigen stehend. Sie trat nahe zu ihm,

       klopfte ihm auf die Schulter und sprach: »Höre, kluger Pandaros, jetzt könntest du etwas tun,

       wodurch du bei allen Trojanern dir Preis und Dank verdientest, vor allem von Paris, der dir gewiß mit

       den herrlichsten Geschenken lohnen würde. Siehst du dort Menelaos, den hochmütigen Sieger

       stehen? Wage es und drücke deinen Pfeil auf ihn ab.«

       So sprach die verhüllte Göttin, und das Herz des Toren gehorchte ihr. Schnell entblößte er den

       Bogen, öffnete den Deckel des Köchers, wählte einen befiederten Pfeil, legte ihn auf die Sehne, und

       bald sprang das Geschoß vom schwirrenden Horn. Athene aber lenkte den Pfeil auf den Leibgurt, so

       daß er zwar durch diesen und den Harnisch drang, aber nur die oberste Haut ritzte, jedoch so, daß

       das Blut aus der Wunde rann und den Menelaos ein leichter Schauer durchflog. Wehklagend

       umringten ihn Agamemnon und die Genossen. »Teurer Bruder«, rief der König, »dir zum Tode hab

       ich das Bündnis geschlossen; die treulosen Feinde haben es mit Füßen getreten. Zwar werden sie es

       büßen, und ich weiß gewiß, daß der Tag kommt, wo Troja mit Priamos und dem ganzen Volke

       hinsinkt; mich aber erfüllt dein Tod mit dem bittersten Schmerz. Wenn ich ohne dich heimkehre und

       deine Gebeine auf trojanischem Boden am unvollendeten Werk dahinmodern, mit welcher Schmach

       würde mich das Vaterland empfangen; denn einem andern, nicht mir ohne dich, ist beschieden, Troja

       zu erobern und Helena fortzuführen. Und auf dein Grab springend, wird der Trojaner Hohnreden

       führen über dich, Hohnreden über mich. Spaltete sich doch die Erde, mich zu verschlingen!« Aber

       Menelaos tröstete seinen Bruder. »Sei ruhig«, sprach er, »das Geschoß hat mich nicht zum Tode

       verwundet; mein Leibgurt hat mich geschützt.« »O daß dem so wäre«, seufzte Agamemnon und

       beschickte durch seinen Herold eilig den heilkundigen Machaon. Dieser kam, zog den Pfeil aus dem

       Gurt, löste diesen, öffnete den Harnisch und beschaute die Wunde; dann sog er selbst das quellende

       Blut heraus und legte ihm eine lindernde Salbe auf.

       Während der Arzt und die Helden so um den verwundeten Menelaos beschäftigt waren, rückten die

       Schlachtreihen der Trojaner schon heran; auch die Griechen hüllten sich wieder in ihre Wehren, und

       Agamemnon übergab dem Eurymedon Rosse und Wagen mit der Weisung, sie ihm zu bringen, wenn

       er ihn vom Durcheilen der Schlachtordnung ermattet sehe. Dann flog er zu Fuß unter die Scharen der

       Streiter und ermunterte sie zur Abwehr, die Mutigen belebend, die Saumseligen tadelnd. So gelangte

       er auf seinem Gange zu den Kretern, die gewappnet ihren Heerführer Idomeneus umringten. Dieser

       stand an ihrer Spitze, kampflustig wie ein Eber. Die hinteren Reihen munterte sein Freund Meriones

       auf. Als Agamemnon die Scharen sah, wurde sein Herz fröhlich. »Du bist mir doch der Besten einer,

       Idomeneus«, rief er ihnen zu, »bei jedem Geschäfte, im Kriege wie beim Mahle, wenn man den

       funkelnden Ehrenwein in den mächtigen Krügen mischt: Wenn da die andern ihr bescheidenes Maß

       trinken, so steht dein Becher immer voll wie der meinige. Jetzt aber stürme mit mir in die Schlacht,

       wie du dich so oft gegen mich gerühmt.« »Wohl bleibe ich dein treuer Genosse, König«, erwiderte

       jener, »geh nur andere anzuspornen, bei mir bedarf es dessen nicht. Möge Tod und Verderben die

       bundbrüchigen Trojaner treffen!«

       Jetzt erreichte Agamemnon die beiden Ajax, hinter denen ein ganzes Gewühl von Fußvolk einherzog.

       »Wenn doch«, rief ihnen der König im Vorübereilen zu, »ein Mut wie der eurige den Busen aller

       Danaer beseelte, dann sollte die Burg des Priamos bald unter unsern Händen in Trümmer fallen.«

       Nun traf er weiterschreitend auf Nestor. Dieser ordnete gerade seinen Heerhaufen: voran die Helden

       mit Roß und Wagen, viele und tapfere Männer zu Fuße hinten, die Feigen in die Mitte gedrängt. Dazu

       ermahnte er sie mit weisen Worten: »Wage sich mir keiner mit seinem Streitwagen zu weit vor,

       weiche mir auch keiner zurück; stößt Wagen auf Wagen, so strecket die Lanze vor.« Wie ihn

       Agamemnon die Seinigen so ermahnen hörte, rief er ihm zu: »O Greis, möchten dir die Knie folgen

       und deine Leibeskraft ausreichen, wie dir der Mut noch den Busen füllt. Könnte doch ein anderer dir

       die Last des Alters abnehmen, daß du zum Jüngling umgeschaffen würdest!« »Wohl möchte ich jetzt

       der sein, der ich einst war«, antwortete ihm Nestor, »doch haben die Götter den Menschen nicht

       alles zugleich verliehen. Mögen die jüngeren Speere werfen; ich begleite meine Männer mit Worten

       und weisem Rate, den auch das Alter geben kann.« Freudig ging Agamemnon an ihm vorüber und

       stieß jetzt auf Menestheus, den Sohn des Peteos, um den die Athener geschart waren und neben

       welchem die Kephallenier in dichten Schlachtreihen unter Odysseus standen. Beider Haufen ruhten

       in Erwartung und wollten andere Züge voranstürmen lassen. Dies verdroß den Völkerfürsten, und er

       sprach mürrisch zu ihnen: »Was schmieget ihr euch so zusammen, ihr beiden, auf andere harrend?

       Wenn wir Braten schmausen und Wein trinken,