Unmut zu: »Bruder, du bist doch nur von Gestalt ein Held, in Wahrheit aber nichts als ein weibischer,
schlauer Verführer. Wärest du lieber gestorben, ehe du um Helena gebuhlt! Siehst du nicht, wie die
Griechen ein Gelächter erheben, daß du es nicht wagest, dem Manne standzuhalten, dem du die
Gattin gestohlen hast? Du wärest wert zu erfahren, an welchem Manne du dich versündigt, und ich
würde dich nicht bemitleiden, wenn du dich verwundet auf dem Boden wälzest und der Staub dein
zierliches Lockenhaar besudelte.« Paris antwortete ihm: »Hektor, dein Herz ist hart und dein Mut
unwiderstehlich wie eine Axt aus Erz, mit der der Schiffszimmermann Balken behaut, und du tadelst
mich nicht mit Unrecht; aber schilt mir nicht meine Schönheit, denn sie ist auch eine Gabe der
Unsterblichen. Wenn du mich aber jetzt kämpfen sehen willst, so heiß Trojaner und Griechen ruhen;
dann will ich um Helena und alle ihre Schätze mit dem Helden Menelaos vor allem Volke den
Zweikampf wagen. Wer von uns beiden siegt, mag sie heimführen; ein Bund soll es bekräftigen; ihr
bauet alsdann das trojanische Land in Frieden, und jene schiffen heim gen Argos.«
Eine freudige Überraschung hatte sich Hektors bei diesen Worten seines Bruders bemächtigt; er trat
vor die Schlachtordnung heraus in die Mitte und hemmte, den Speer hochhaltend, den Anlauf der
trojanischen Haufen. Als die Griechen seiner ansichtig wurden, zielten sie in die Wette mit
Wurfspießen, Pfeilen und Steinen nach ihm. Agamemnon aber rief laut nach den griechischen Reihen
zurück: »Haltet ein, Argiver, werfet nicht; der helmumflatterte Hektor begehrt zu reden!« Die
Griechen ließen ihre Hände sinken und verharrten in Schweigen ringsumher; und nun verkündete
Hektor mit lauter Stimme den Völkern den Entschluß seines Bruders Paris. Seine Rede beantwortete
ein tiefes Stillschweigen. Endlich nahm Menelaos vor den Heeren das Wort: »Hört mich an«, rief er,
»mich, auf dessen Seele der allgemeine Kummer am schwersten lastet! Endlich, hoffe ich, werdet ihr,
Argiver und Trojaner, nachdem ihr um des Streites willen, den Paris angefacht, so viel Schlimmes
erduldet habt, versöhnt voneinander scheiden! Einer von uns zweien, welchen auch das Schicksal
auserkoren hat, soll sterben; ihr andern aber sollt in Frieden scheiden. Laßt uns opfern und
schwören, alsdann mag der Zweikampf beginnen!«
Beide Heere wurden froh über diesen Worten; denn sie sehnten sich nach einem Ende des unseligen
Kriegs. Auf beiden Seiten zogen die Wagenlenker den Rossen die Zügel an, die Helden sprangen von
den Streitwagen, zogen die Rüstungen aus und legten sie, Feinde ganz nahe an Feinden, auf die Erde
nieder. Hektor sandte eilig zween Herolde nach Troja, die Opferlämmer zu bringen und den König
Priamos herbeizurufen, auch der König Agamemnon schickte den Herold Talthybios zu den Schiffen,
ein Lamm zu holen. Die Götterbotin Iris aber, in Priamos' Tochter Laodike umgestaltet, eilte, die
Botschaft der Fürstin Helena in die Stadt zu bringen. Sie fand sie am Webestuhl, ein köstliches
Gewand mit den Kämpfen der Trojaner und Griechen durchwirkend, die Augen auf ihre Arbeit
geheftet. »Komm doch heraus, trautes Kind«, rief sie ihr zu, »du sollst etwas Seltsames schauen! Die
Trojaner und Griechen, die noch eben voll Ingrimms zur Feldschlacht gegeneinander anrückten,
ruhen stillschweigend, auf die Schilde hingelehnt, die Speere in den Boden gesteckt, einander
gegenüber; aber Krieg ist beendigt; nur deine Gatten Alexander und Menelaos werden mit der Lanze
um dich kämpfen: und wer seinen Gegner besiegt, trägt dich als Gemahlin davon!«
So sprach die Göttin und erfüllte das Herz Helenas mit Sehnsucht nach ihrem Jugendgemahl
Menelaos, nach der Heimat und nach den Freunden. Sie hüllte sich schnell in einen silberweißen
Schleier, in welchen sie die Träne verbarg, die ihr an den Wimpern hing, und eilte, von Aithra und
Klymene, zweien ihrer Dienerinnen, gefolgt, nach dem Skäischen Tore. Hier saß auf den Zinnen König
Priamos mit den ältesten und verständigsten Greisen des trojanischen Volkes, Panthoos, Thymötes,
Lampos, Klytios, Hiketaon, Antenor und Ukalegon; die beiden letztern waren die verständigsten
Männer von Troja; sie alle ruhten zwar in ihrem hohen Alter vom Kriege aus, in der Ratsversammlung
aber war ihr Wort das tüchtigste. Als diese von der Höhe des Turmes Helena herankommen sahen,
flüsterten die Greise, die Gestalt der Fürstin bestaunend, einander leise zu: »Fürwahr, niemand soll
Trojaner und Griechen tadeln, daß sie für ein solches Weib so lange im Elend ausharren. Gleicht sie
doch einer unsterblichen Göttin an Herrlichkeit! Aber auch mit solcher Gestalt mag sie immerhin auf
den Schiffen der Danaer heimkehren, damit uns und unsern Söhnen nicht der Schaden
zurückbleibe!« Priamos aber rief Helena liebreich herbei: »Komm näher heran«, sprach er, »mein
Töchterchen, setze dich zu mir her, ich will dir deinen ersten Gemahl, deine Freunde und deine
Verwandten zu schauen geben; du bist mir nicht schuld an diesem jammervollen Kriege; die Götter
sind es, die ihn mir zugesendet haben. Nenne mir denn jenes gewaltigen Mannes Namen, der dort so
groß und herrlich über alle Danaer hervorprangt; an Haupt überragen ihn zwar hier und da noch
größere Männer in dem Heere, aber von so königlicher Gestalt habe ich doch noch keinen unter
ihnen gesehen.«
Ehrfurchtsvoll entgegnete Helena dem Könige: »Teurer Schwiegervater, Scheu und Furcht bewegen
mich, indem ich dir nahe. Mir wäre der bitterste Tod besser gewesen, als daß ich, Heimat, Tochter
und Freunde verlassend, deinem Sohne hierher gefolgt bin. In Tränen möchte ich zerfließen, daß es
geschah! Nun aber höre: der dort, nach dem du fragst, ist Agamemnon, der trefflichste König und ein
tapferer Krieger; er war, ach, er war dereinst mein Schwager!« »Glücklicher Atride«, rief Priamos aus,
den Helden sich betrachtend, »Gesegneter, dessen Zepter zahllose Griechen gehorchen! Auch ich
stand einst in männlicher Jugend an der Spitze eines großen Heeres, als wir die Horde der Amazonen
von Phrygien abwehrten; doch war mein Heer nicht so groß wie das deinige!« Dann fragte der Greis
von neuem: »Nenne mir nun auch noch jenen, Töchterchen; er ragt nicht so hoch empor wie der
Atride, aber seine Brust ist breiter, seine Schultern sind mächtiger; seine Wehr liegt zu Boden
gestreckt; er selbst umwandelt die Reihen der Männer wie ein Widder die Schafe.« »Das ist der Sohn
des Laërtes«, antwortete Helena, »der schlaue Odysseus; Ithaka, die felsige Insel, ist seine Heimat.«
Jetzt mischte sich auch der Greis Antenor ins Gespräch: »Du hast recht, Fürstin«, sagte er, »ihn und
Menelaos