Zeus gedachte des Winks, den er der Meeresgöttin Thetis zugenickt hatte. Er schickte den Traumgott
in das Lager der Griechen und in das Zelt des schlummernden Königs Agamemnon. Dieser stellte sich
in Nestors Gestalt, den der König vor allen andern Ältesten ehrte, zu seinen Häupten und sprach zu
ihm: »Schläfst du, Sohn des Atreus? Ein Mann, der das ganze Volk beraten soll, darf nicht so lange
schlafen. Höre mich, der ich als ein Bote des Zeus zu dir komme; er befiehlt dir, die Achiver zur
Schlacht zu rüsten: jetzt sei die Stunde, wo Troja bezwungen werden kann. Die Himmlischen sind
entschlossen, und Verderben schwebt über der Stadt.«
Agamemnon erwachte vom Schlafe und verließ eilig das Lager. Er band sich die Sohlen unter die
Füße, zog das Gewand an, hängte das Schwert über die Schulter, ergriff den Zepter und wandelte in
der Frühe des Morgens nach den Schiffen. Die Herolde gingen auf sein Geheiß, das Volk zur
Versammlung zu rufen, von einer Lagerstatt zu der andern; die Fürsten des Heeres aber wurden am
Schiffe Nestors in einen Rat gerufen. Hier eröffnete Agamemnon die Beratung mit den Worten:
»Freunde, vernehmet! Ein gottgesandter Traum, in Nestors Gestalt zu mir tretend, hat mich belehrt,
daß, von Zeus herabgeschickt, über Troja Verderben schwebe. Laßt uns nun sehen, ob es uns gelingt,
die durch den Zorn des Achill entmutigten Männer zur Schlacht zu rüsten. Ich selbst will sie zuerst mit
Worten versuchen und ihnen den Rat erteilen, zu Schiffe zu gehen und die trojanische Küste zu
verlassen; dann sollt ihr euch, der eine da‐, der andere dorthin eilend, verteilen und die Völker zum
Bleiben zu bewegen suchen.« Nach Agamemnon erhob sich Nestor und sprach zu den Fürsten:
»Wenn ein anderer Mann uns einen solchen Traum erzählte, so würden wir ihn der Lüge
beschuldigen und uns verächtlich abwenden. So aber ist der, der diesen Traum gesehen hat, der
erste Fürst aller Danaer; und darum glauben wir ihm und gehen ans Werk!« Nestor verließ den Rat,
und alle Fürsten folgten ihm auf den Markt, wo das gesamte Volk sich schon wie ein Bienenschwarm
versammelte. Neun Herolde ordneten dasselbe, daß es sich im Kreise lagerte und allmählich der
Lärm und das Flüstern der Redenden verstummte. Dann sprach Agamemnon, in der Mitte der
Versammlung stehend und auf seinen Herrscherstab sich lehnend: »Lieben Freunde, versammelte
heldenmütige Streiter des Danaervolkes, der grausame Zeus hat mich in starke Schuld verstrickt, er,
der mir einst so gnädig gelobt hatte, daß ich nur als Vertilger Trojas heimziehen sollte. Jetzt aber
gefällt es ihm, der schon so viele Städte zu Boden geschmettert hat und in seiner Allmacht noch
niederschmettern wird, mir zu befehlen, daß ich, nachdem so viel Volkes umsonst erlegen ist,
ruhmlos nach Argos zurückkehren soll. Auch ist es freilich schmählich, wenn ein späteres Geschlecht
vernehmen soll, daß dieses große Griechenvolk in einem heillosen Streite gegen soviel schwächere
Feinde fortkämpfe. Denn wahrhaftig, wenn wir die Zahl der Trojaner im Frieden mit der Zahl der
Unsrigen messen wollten, so daß je ein Trojaner einem Tische von zehn Griechen den Wein
kredenzte: viele Tische, deucht mir, würden des Weines entbehren müssen. Aber freilich haben sie
mächtige Bundesgenossen aus vielen Städten, deren Macht mir nicht erlaubt, ihre Stadt zu vertilgen,
wie ich wohl möchte. Inzwischen sind neun Jahre herumgegangen, das Holz an unsern Schiffen wird
anbrüchig, die Seile vermodern, unsere Weiber und Kinder sitzen zu Hause und schmachten nach
uns: so ist es wohl das beste, wir fügen uns in des Zeus Gebot, gehen zu Schiffe und kehren ins liebe
Land der Väter zurück.« Die Worte Agamemnons bewegten die Versammlung wie schwellende
Meereswogen. Das ganze Heer geriet in Aufruhr; alles stürzte den Schiffen zu, daß der Staub in die
Luft wirbelte; einer ermunterte den andern, die Schiffe ins Meer zu ziehen; die Balken unter diesen
wurden hinweggezogen, die Gräben, die mit dem Meer in Verbindung standen, geräumt.
Den Freunden der Griechen im Olymp selbst wurde bange, als sie den Ernst der Völker sahen, und
Hera ermahnte Athene, hinunterzueilen ins Heer der Achiver und durch ihre schmeichelnde
Götterrede die Flucht derselben zu hemmen. Pallas Athene gehorchte ihr und flog von den
Felsenhöhen des Olymp hinab ins Schiffslager der Griechen. Hier fand sie den Odysseus mit
gramvollem Herzen regungslos vor seinem Schiffe stehend, das er nicht zu berühren wagte. Die
Göttin näherte sich ihm, und indem sie sich seinen Blicken offenbarte, sprach sie freundlich zu ihm:
»Also wollet ihr euch wirklich in die Schiffe stürzen und fliehen? Wollet dem Priamos den Ruhm und
den Trojanern Helena lassen, die Griechin, um welche so viele Griechen fern vom Vaterlande
dahingesunken sind? Nein, das wirst du nicht dulden, edler, kluger Odysseus! Eilig dich ins Heer der
Danaer geworfen, nicht gezaudert! Brauche deiner Beredsamkeit, ermahne, hemme sie!« Auf den
Ruf der Göttin warf Odysseus schnell seinen Mantel weg, welchen Eurybates, sein Herold, der ihm
gefolgt war, aufnahm, und eilte unter das Volk. Stieß er nun an einen der Fürsten und edlern
Männer, so hielt er ihn mit freundlichen Worten an und sprach ihm zu: »Ziemt es dir auch, mein
Trefflicher, zu verzagen wie ein Feigling? Du solltest vielmehr ruhig bleiben und auch die andern
beruhigen. Weißt du doch nicht, wie der Atride wirklich im Herzen gesinnt ist und ob er die Griechen
nicht hat versuchen wollen!« Wenn er aber wo einen Mann vom Volke lärmend und schreiend
antraf, den schlug er mit seinem Zepter und bedrohte ihn mit lauter Stimme: »Elender, rühre dich
nicht; hör du, was andre sagen, du, den man weder im Kampf noch im Rate rechnen kann! Wir
Griechen können doch nicht alle Könige sein! Vielherrschaft ist nichts nütze, nur einem hat Zeus den
Zepter verliehen, und diesem sollen die andern gehorchen!«
So ließ Odysseus seine herrschende Stimme durchs Heer erschallen und bewog endlich das Volk, von
den Schiffen auf den Versammlungsplatz zurückzuströmen. Allmählich wurde alles ruhig und
verharrte geduldig auf den Sitzen. Nur eine einzige Stimme krächzte noch: es war Thersites, der sich,
wie gewöhnlich, mit fordernden Scheltworten gegen die Fürsten vernehmen ließ. Dieser war der
häßlichste Mann, der aus Griechenland mit vor Troja gekommen war; er schielte mit dem einen Auge
und war lahm am andern Fuße, hatte einen Höcker auf dem Rücken, die Schultern gegen die Brust
eingeengt, einen Spitzkopf, dessen Scheitel nur mit dünner Wolle spärlich besäet war. Besonders war
der Haderer dem Peliden und Odysseus verhaßt; denn gegen diese Helden lästerte er unaufhörlich.
Diesmal aber kreischte er seine Schmähungen