Jakob hatte bisher nur mit ihm trainiert. Die anderen Wächter hatten nur am Rand gestanden und aufmerksam zugesehen.
Nach der ersten Viertelstunde war Ravens aggressives Knurren verstummt. Auch er musste erkannt haben, dass es sich um ein ausgezeichnetes und professionelles Training handelte; ohne Blutvergießen oder sinnlose Gewalt zur Machtdemonstration – wie es Yago der Schlächter getan hätte.
Dennoch trainierte Jakob, in der Gewohnheit, dass jede Verletzung heilte, wesentlich härter. Deshalb hatte Agnus in weiser Voraussicht, aber unter heftigem Protest von Rose sie und Walter nur als Zaungäste zugelassen.
Der letzte Wurf hatte John die Luft aus den Lungen getrieben. Immer noch auf dem Bauch liegend, versuchte er gerade wieder, zu Atem zu kommen, als Benedikts Schuhe in seinem Gesichtsfeld auftauchten. Mit einem Stöhnen drehte er sich auf den Rücken.
„Ich glaube, John hat genug, Jakob. Nimm dir den Nächsten vor.“ Der Mönch reichte ihm die Hand.
„Ich bin ganz deiner Meinung, Benedikt“, sagte er und ließ sich dankbar hochziehen.
„Zieh dich an, wir gehen ein Stück.“
„Ich habe gerade Lara kennengelernt.“
„Wie geht es ihr?“
„Deine Gefährtin war verzweifelt und außer sich, sie fühlte sich wie ein gefangenes Wildtier.“
„Konntest du ihr helfen?“
„Für den Augenblick.“
John fuhr sich mit der Hand durch die Locken.
„Leider ist sie noch nicht meine Gefährtin, Benedikt.“
„Ach ja? Ihre Blüte der Ewigkeit ist voll ausgebildet. Das Geschenk eures Blutes hat die Symbiose abgeschlossen.“
Ihm hätte klar sein müssen, dass dem Mönch, der schon vor Lorelei gelebt hatte, nichts entging. Und er hatte recht: Laras Blüte leuchtete in lebendigen Rot- und Grüntönen. Rot, das Zeichen, dass ein Vampirgefährte ihr sein Blut und damit ewige Jugend geschenkt hatte. Grün, als Zeichen des Lebens, weil sie ihr Leben und Blut mit einem Vampir teilte und nun kein anderer jemals ihr Blut antasten dürfte.
„Das Geschenk des Blutes“, wiederholte John frustriert und stieß die Luft aus. Er dachte daran, wie sie heute zuerst sein Blut abgelehnt und sich kurz darauf an die Kehle gegriffen hatte und vor ihm zurückgewichen war, weil sie glaubte, er würde sie beißen.
„Ich habe ihr mein Blut gegeben, um ihr Leben zu retten und sie mir ihres, um uns beide zu retten. Das war eine reine Vernunftentscheidung.“
Benedikt hob eine Augenbraue.
„Eine reine Vernunftentscheidung?“
„Ja. Aus der Not heraus“, ergänzte er schnell.
„Du willst mir also weismachen, dass das nicht aus Liebe geschehen ist?“
Er fuhr sich mit der Hand durch seine Locken.
„Ich war dabei, um sie zu werben, wollte ihr Herz gewinnen. Aber ich glaube, inzwischen hasst sie mich sogar.“
„Du hast also um sie geworben, mehr nicht?“
Der Mönch lächelte ihn milde an und John fühlte sich auf einmal ertappt wie ein knutschender Teenager. Benedikt konnte Gedanken lesen. Das Intime zu leugnen, war sinnlos.
„Wir – ähm – haben wohl den letzten Schritt vor dem ersten gemacht.“
„Ja, das sehe ich auch so. Dadurch habt ihr euch verbunden.“
„Nein, ich habe dabei nicht ihr Blut getrunken“, protestierte er, um den Rest seiner Ehre zu retten, „um die Symbiose nicht zu vollenden.“
Benedikt schüttelte den Kopf. „John, du solltest wissen, dass die Blüte sich nur entwickelt, wenn auf beiden Seiten Liebe im Spiel ist. Ambrosius erklärt das mit dem richtigen Hormoncocktail im Blut und Hautkontakt, durch den chemische Botenstoffe übertragen werden, wodurch eine Kettenreaktion im Körper der Frau ausgelöst wird und so weiter, und so weiter. Jedenfalls hat das Blut die Sache nur endgültig gemacht. Aber da das nun geschehen ist, erzähl mir doch, warum sie jetzt so unglücklich ist.“
„Wozu? Du hast sicher ihre Gedanken gelesen“, antwortete er niedergeschlagen. Alles noch mal aufzurollen, würde auch nichts daran ändern.
„Ich will die Dinge aber aus deiner Sicht hören.“
Also schilderte er ihren Streit, dessen Auslöser und Laras Begleitumstände. Währenddessen legte der Mönch eine Hand in Johns Nacken und sie marschierten kreuz und quer durch die fensterlosen Flure. Irgendwann erreichten sie sein Quartier, aber da er in seine Ausführungen vertieft war, registrierte er viel zu spät, dass Benedikt mit ihm auf die offene Terrassentür zusteuerte.
Tödlich stand die untergehende Sonne noch orangerot am Horizont.
Instinktiv versuchte er, vor der Gefahr zurückzuweichen, aber der Mönch hielt ihn fest.
„Keine Angst. Du stehst unter meinem Schutz, solange meine Hand in deinem Nacken liegt. Dieser Sonnenuntergang ist mein Geschenk an dich. Sieh dir die wunderschönen Farben an und genieß die Wärme seiner Strahlen.“
Noch nie hatte er einen Sonnenuntergang ohne extrem dunkle Schutzverglasung, geschweige denn im Freien erlebt. Selbst die verspiegelte Badezimmerfront lag so, dass kein frontales Sonnenlicht bis in den Raum eindrang.
Er stand einfach nur da, schweigend, während ihm Tränen über die Wangen liefen, weil das Schauspiel der Natur ihn so ergriff. Langsam versank die Sonne rot glühend am Horizont und tauchte den Himmel dabei in ein wechselndes Spiel aus atemberaubenden Farben.
Erst jetzt brach Benedikt das Schweigen.
„John, du bist doch Taktiker, oder?“
Das wusste der Mönch sehr genau, deswegen nickte John nur.
„Und du bist ein leidenschaftlicher Schachspieler. Du betrachtest das Schachbrett vor dir, kalkulierst die Möglichkeiten aller Figuren und überdenkst dann – wie viele Züge mit all ihren Folgen im Voraus?“
Er hatte nie mitgezählt und grübelte noch, als Benedikt abwinkte.
„Na ja, jedenfalls eine Menge. Und du bist auch der Fachmann, den alle fragen, wenn es komplizierte Probleme mit mehreren Aspekten zu lösen gilt.“
„Du erzählst mir nichts Neues, Benedikt.“
„Nein, aber ich hoffe, dir eine neue Sichtweise zu geben.“
„Aber wie soll mir das helfen, Laras Herz zu gewinnen?“ Er gab sich keine Mühe, seinen Frust zu verbergen.
„Gute Frage.“
Benedikt sah ihn liebenswürdig, aber gleichzeitig wie ein Lehrer an, der seinen Schüler auf eine Lösung bringen will, die direkt vor seiner Nase liegt.
„Ich habe mir von Agnus erzählen lassen, wie Lara dich gerettet und dabei ihr Leben riskiert hat. Ich denke nicht, dass du erst ihr Herz gewinnen musst, denn das war keine Vernunftentscheidung, sondern Liebe, John.“
„Das war dumm! Und Lara hatte keinen Schimmer, worauf sie sich da einlässt!“
„Ach ja? Wusstest du nicht, das Agnus versucht hat, deine Lara aufzuhalten? Sie eindringlich gewarnt hat? Und er war nicht der Einzige. Liebe ist nicht der Punkt, John. Eure Liebe mag jung sein wie ein zartes Pflänzchen, das Pflege braucht und noch wachsen muss, aber eure erste Feuerprobe habt ihr bereits bestanden.“
„Aber siehst du denn nicht die Probleme, die wir miteinander haben?“
Benedikt lächelte erneut und klopfte ihm auf die Schulter.
„Genau. Ihr habt Probleme. Jetzt bist du auf dem richtigen Weg.“
„Benedikt,