Das Gleichnis vom Pharisäer und vom Zöllner
Manche Leserinnen und Leser qualifizieren den Pharisäer als heuchlerisch, scheinheilig und legalistisch ab und identifizieren sich im Gegenzug mit dem Zöllner als dem bußfertigen, demütigen und gerechtfertigten Sünder. Dieses Verständnis ist nicht erstaunlich angesichts der Tatsache, dass Lukas zuvor zahlreiche böswillige Pharisäer und mehrere bewundernswerte Zöllner beschreibt. Sobald die Leserinnen und Leser sich jedoch entschlossen haben, sich mit dem Zöllner zu identifizieren und den Pharisäer abzulehnen, führt das Gleichnis sie in die Falle: In Anlehnung an Lk 18,11 zu schlussfolgern, „Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie … dieser“ Pharisäer, bringt die Leserinnen und Leser in genau die Position, die sie verdammen. Vielmehr übersieht diese Interpretation die vielen herausragenden Eigenschaften des Pharisäers: Almosengeben, Fasten und Dankbarkeit ohne die Erwartung einer Gegenleistung.
Andere Leserinnen und Leser nehmen an, dass der Zöllner „ferne“ (Lk 18,13) steht, weil andere Betende ihn ausgrenzen oder glauben, er sei kultisch unrein. Das Gleichnis sagt aber nichts von Ausgrenzung oder Unreinheit; im Gegenteil: Um das Tempelgelände betreten zu können, muss man rituell rein sein. Selbst wenn er ausgegrenzt wäre, wäre der Grund dafür nicht Unreinheit, sondern seine Tätigkeit: Er arbeitet für die Römer, die Besatzungsmacht.Noch andere meinen, der Tempel sei ein elitäres, xenophobes, misogynes und vollständig korruptes „Herrschaftssystem“, das Jesus ablehne. Auch dieses Stereotyp konterkariert das Gleichnis, insofern Buße und Versöhnung eben gerade im Tempel geschehen.Wir sollten eher den Pharisäer als Hilfe für den Zöllner betrachten. Wie die Sünde eines Mitglieds die ganze Gemeinschaft verunreinigt (daher z.B. auch „Vergib uns unsere Sünden“ [Lk 11,4] und nicht „vergib mir meine Sünden“), so können auch die Verdienste des einen Gerechten der ganzen Gemeinde zugute kommen (s. Gen 18,24–33; daher auch eine Interpretation des Kreuzes Christi: das Opfer eines Einzelnen kann die Vielen retten). Juden, die dieses Gleichnis zum ersten Mal hörten (besonders wenn Lk 18,14b, ein Vers, der an verschiedenen Stellen im Evangelium vorkommt, nicht ursprünglich zum Gleichnis gehörte, s. Lk 14,11; Mt 23,12), könnten die Verdienste des Pharisäers durchaus so verstanden haben, dass sie den Zöllner beeinflussen. Dies wäre der überraschende Moment des Gleichnisses: Nicht nur, dass der Vertreter Roms gerechtfertigt wird, sondern auch, dass die guten Werke des Pharisäers bei dieser Rechtfertigung hilfreich waren.
15 Sie brachten auch kleine Kinder zu ihm, dass er sie anrühren sollte. Als das aber die Jünger sahen, fuhren sie sie an. 16 Aber Jesus rief sie zu sich und sprach: Lasset die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht, denn solchen gehört das Reich Gottes. 17 Wahrlich, ich sage euch: Wer nicht das Reich Gottes annimmt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen.
Lk 18,15–17 Kleine Kinder (Mt 19,13–15; Mk 10,13–16) 18,15 Brachten auch kleine Kinder, vgl. Anm. zu 8,42. Anrühren, um sie zu segnen und/oder zu heilen. Fuhren sie ihn an, die christlichen Kommentare, die andeuten, dass man sich im Judentum nicht um Kinder gekümmert habe, und in den Jüngern Repräsentanten dieser vermeintlich jüdischen Kultur erblicken, übersehen, dass es jüdische Eltern und Bezugspersonen sind, die ihre Kinder zu Jesus bringen. 18,17 Wie ein Kind, in Abhängigkeit, ohne Hochmut.
18 Und es fragte ihn ein Oberer und sprach: Guter Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe? 19 Jesus aber sprach zu ihm: Was nennst du mich gut? Niemand ist gut als Gott allein. 20 Du kennst die Gebote: »Du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht töten; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht falsch Zeugnis reden; du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren!« 21 Er aber sprach: Das habe ich alles gehalten von Jugend auf.
22 Als Jesus das hörte, sprach er zu ihm: Es fehlt dir noch eines. Verkaufe alles, was du hast, und gib‘s den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm und folge mir nach! 23 Als er das hörte, wurde er traurig; denn er war sehr reich.
24 Da aber Jesus sah, dass er traurig geworden war, sprach er: Wie schwer kommen die Reichen in das Reich Gottes! 25 Denn es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als dass ein Reicher in das Reich Gottes komme. 26 Da sprachen, die das hörten: Wer kann dann selig werden? 27 Er aber sprach: Was bei den Menschen unmöglich ist, das ist bei Gott möglich.
28 Da sprach Petrus: Siehe, wir haben, was wir hatten, verlassen und sind dir nachgefolgt. 29 Er aber sprach zu ihnen: Wahrlich, ich sage euch: Es ist niemand, der Haus oder Frau oder Brüder oder Eltern oder Kinder verlässt um des Reiches Gottes willen, 30 der es nicht vielfach wieder empfange in dieser Zeit und in der kommenden Welt das ewige Leben.
Lk 18,18–30 Der reiche Obere (Mt 19,16–30; Mk 10,17–31) 18,18 Guter Meister, eine respektvolle Anrede. Ewiges Leben ererben, vgl. Anm. zu 10,25. 18,19 Jesus grenzt sich von Gott ab; vgl. Anm. zu 1,17; Lk 4,8;