Sasha wusste, dass er keine Chance hatte, und ihm war ebenfalls bewusst, dass Joanne recht hatte. Ihm stand eine Feuerprobe bevor und er konnte nur hoffen, dass er sie bestehen würde. »Du hast recht, Jo. Ich kann viel von Harrison lernen.«
»Ich habe immer recht, Süßer. Wann wirst du das endlich begreifen?« Sie zwinkerte ihm zu, damit er wusste, dass es als Scherz gemeint war. Ein halber.
»Das habe ich schon an dem Tag begriffen, als ich dieses Büro zum ersten Mal betreten habe.« Sasha stand auf und reichte Joanne die Hände. »Besorgen wir dir und Baby Kingsley Mittagessen, bevor ich mich auf den Weg mache, um zu packen. Ich nehme an, ich muss am Montag anfangen?«
Joanne zuckte zusammen. »Eigentlich braucht Harry dich schon heute Abend.«
Es machte keinen Sinn zu protestieren. Von Anfang an war ihm klar gewesen, dass es in diesem Job keine geregelten Arbeitszeiten geben würde – es glich eher einem Vierundzwanzig-Stunden-Job. Sasha hielt es für das Beste, einfach zu nicken. Ihm stand ein langer, langer Nachmittag bevor.
In der U-Bahn war es stickig und überfüllt.
So war es immer von Mitte April an und es wurde noch stinkender und unangenehmer, je weiter der Frühling in den Sommer überging. Sasha bevorzugte es, stehen zu bleiben, anstatt auf einer Sitzbank mit zahllosen Menschen von ihren Taschen, Gerüchen und Gesprächen in die Ecke gedrängt zu werden. Das bedeutete aber nicht, dass er nicht trotzdem bedrängt wurde. Selbst stehend fühlte man sich während der Rush Hour in der U-Bahn wie eine Ölsardine.
Vielleicht würde er sich irgendwann an die vielen Menschen auf so engem Raum gewöhnen, auch wenn es etwas vollkommen anderes war als die sechs Hektar Land an einer Landstraße, die seine Familie in einem Ort von der Größe einer Briefmarke besaß. Sasha mochte es da, wo er herkam – das tat er wirklich. Aber mitten im Nirgendwo in Kansas konnte er nicht den Job machen, den er wollte, daher New York. Größtenteils gefiel ihm die Stadt, auch dass die U-Bahn ihn überall hinbrachte, aber an die Züge selbst würde er sich nie gewöhnen können.
Er kämpfte sich durch die Massen aus der U-Bahn-Station hinaus und machte sich auf den Weg zu seinem winzigen Appartement im dritten Stock in Alphabet City, das er sich mit seinem Freund Mateo teilte, um Miete zu sparen. Vermutlich hätten sie auch nach Brooklyn oder Queens ziehen können, um günstiger zu wohnen, aber keiner von ihnen wollte Manhattan verlassen. Sasha träumte davon, eines Tages in einem Loft wie dem von Joanne zu leben. Das konnte passieren.
Nein, es würde passieren.
Er würde nicht für immer ein Assistent bleiben.
Im Moment war er zufrieden damit, mit dem besten Freund, den man sich wünschen konnte, in einem Appartement zusammengepfercht zu sein. Zumindest für einen letzten Nachmittag.
Sasha hatte Mateo während seines ersten Monats bei Harrison Kingsley bei einem Fotoshooting kennengelernt, das in einem Appartement in einem umgebauten Lagerhaus stattgefunden hatte und vermutlich mehr kostete, als er in seinem ganzen Leben je verdienen würde. Sasha war umhergeeilt, um wie üblich sicherzustellen, dass alles glattlief. Normalerweise war Joanne bei Shootings nicht anwesend, aber falls sie doch erschien, musste alles perfekt sein.
Mateo war an diesem Tag für das Make-up zuständig gewesen. Sasha und er waren ins Gespräch gekommen, hatten Telefonnummern ausgetauscht und nach ein paar platonischen Verabredungen zum Kaffee festgestellt, dass sie dazu bestimmt waren, beste Freunde zu werden. Anfangs hatte Sasha geglaubt, dass mehr zwischen ihnen entstehen könnte, aber das hatte sich schnell geändert. Mateo war wie ein Bruder für ihn.
»Schnuckelchen, ich bin zu Hause!«, rief Sasha, als er die Tür öffnete. Die Fenster waren geöffnet und es roch nach Schokoladenkeksen. Mateo war zu Hause und er musste unter Stress stehen. Er hatte einmal erzählt, dass er schon sein ganzes Leben lang ein Stress-Bäcker war, eine Angewohnheit, die er von seiner Großmutter übernommen hatte. »Was ist los, Matty?«
Mateo streckte den Kopf aus seinem Schlafzimmer – wenn man den Raum denn so bezeichnen konnte. Beide Schlafzimmer waren gerade groß genug für ein Bett und etwas Platz, damit man sich um das Bett herum zum Kleiderschrank durchmogeln konnte. Dafür hatten sie ein gemütliches, helles Wohnzimmer und eine richtige Küche. Das war es wert. Mateos dichtes, dunkelbraunes Haar war wirr, als wäre er mehrmals mit den Händen hindurchgefahren, und seine Augen waren weit aufgerissen. Er sah aus wie... na ja, Sasha wusste nicht genau, wie er aussah. Verwirrt. Fassungslos. Als wäre sein gesamtes Leben auf den Kopf gestellt worden. Sasha kannte das Gefühl.
»Ich habe den Job«, sagte er. Seine Stimme war leise, nur ein Hauch. Perplex.
»Den Job? Den Job?« Sashas Mund klappte auf.
Mateo nickte und Sasha eilte durch den Raum, um ihn zu umarmen.
»Ich kann nicht glauben, dass das wirklich passiert«, murmelte Mateo. »Ich... ziehe um. Nach Kanada.«
Sasha kicherte, überspielte damit aber nur seine größte Angst – dass Mateo ihn eines Tages verlassen würde.
»Aber nur für ein paar Monate. Du kommst doch zurück, oder?«
Der Gedanke, Mateo dauerhaft an ein Filmset in Vancouver zu verlieren, ließ Sashas Herz stolpern. Er war nie gut mit Trennungen zurechtgekommen, wie sehr er sich für seinen besten Freund auch freute.
»Ja. Natürlich komme ich zurück, Babe. Ich würde dich nie verlassen.« Mateo gab ihm einen feuchten Schmatzer auf die Wange. »Aber ich muss eine Wohnung dort finden und packen und...« Jetzt wirkte er wieder gestresst und überwältigt. Mateo tendierte dazu, in ihrer Wohnung im Kreis umherzulaufen, wenn er unter Stress stand. Backen und Laufen, das waren seine Stressbewältigungsmethoden. Sasha war schon nervös genug aufgrund seiner eigenen Situation, da konnte er Mateos Auf-und-ab-Gehen nicht auch noch ertragen.
»Du bist nicht der Einzige, der packen muss«, meinte er ruhig. Er hatte es immer noch nicht realisiert – er würde den Sommer in purem Luxus verbringen, auch bekannt als der letzte Ort auf der Welt, an dem er sein wollte.
»Was meinst du damit?«, wollte Mateo wissen. Immerhin war er stehen geblieben.
Sasha verdrehte die Augen. »Ich ziehe den Sommer über ebenfalls um. In die Hamptons.« Seiner Stimme war anzuhören, wie sehr es ihn aufregte, mit Harrison arbeiten zu müssen.
Mateo gab vor, in Ohnmacht zu fallen. »Oh, du Armer musst den Sommer in den Hamptons verbringen. Was für eine Qual! Ich weiß nicht, ob du das überstehen wirst.«
Sasha gab ihm einen leichten Schubs und kicherte. »Du würdest es auch als Nervenprobe empfinden, wenn du dort hinmüsstest, um für Bruder Kingsley, das Arschloch, zu arbeiten.«
»Er sieht so toll aus«, hauchte Mateo. »Und er ist schwul.«
»Aber Matty, ich hasse ihn.«
»Genau. Du hasst ihn so sehr, dass du ständig über ihn redest. Weißt du eigentlich, wie viele unserer Gespräche sich in den letzten zwei Jahren um Harrison Kingsley gedreht haben?«
Sasha hasste ihn wirklich, egal was Matty, dieser Verräter, andeuten wollte.
Er hasste es, wie er sich fühlte, wenn Harrison mal wieder ungeduldig am Telefon war, er hasste dessen snobistische Art, wenn er Sasha Sam oder Seth nannte, weil er sich anscheinend nie seinen richtigen Namen merken konnte. Aber am meisten hasste er die lästigen Schmetterlinge, die er jedes Mal in seinem Bauch spürte, wenn er Harrisons nervenaufreibende, tiefe, zart schmelzende Stimme hörte. Sasha wollte nicht hören, dass hinter seinem Hass möglicherweise