Wie wir in den vergangenen Lerneinheiten gesehen haben, sind Fachsprachen durch ihre Funktions- und Gruppenbezogenheit gekennzeichnet. So entstehen unterschiedliche Genres innerhalb der Fachsprachen, die sich durch ebenso individuelle Strukturen und Formen auszeichnen, wie wir das eben anhand der nicht-fachlichen Genres behandelt haben. Aufgrund dieser strukturellen Fixiertheit sind die fachlichen Genres auch für Laien, wenn schon nicht nachvollziehbar, dann doch zumindest erkennbar. Da Genres fest mit sozialen Situationen verbunden sind, in denen sie eine Rolle spielen, sind in bestimmten Situationen nur bestimmte Genres wählbar. In einigen Genres von Fachsprachen dominieren elliptische Strukturen, zum Beispiel in Fahrplänen oder Durchsagen an das Personal in Kaufhäusern. Die Äußerung Lokführer 70667 Anschluss 1665 entspricht einem Imperativ, der dem Lokführer der Regionalbahn von Bayreuth nach Weiden über Kirchenlaibach mitteilt, dass er die Ankunft des ICE aus Nürnberg abzuwarten habe (Beispiel aus Roche 2003: 149). Auch hier ist der Zweck der Kommunikation die Form für die sprachlichen Mittel. Möglichst kurz und eindeutig sollen Informationen von Fachleuten für Fachleute übermittelt werden. Das jeweilige Genre dient als eine Art Raster, dem bestimmte Merkmale von vornherein zugeordnet sind (wer, was, wo, warum, wie), und teilt den Beteiligten mit, was sie zu erwarten haben und welche Verhaltensmuster von ihnen gefordert sind. Gleichzeitig prägt das Wissen über Genres unsere Vorerwartung, die wir an einen Text haben.
Im Gegensatz zum Register wird im Genrebegriff also die Verarbeitung durch die Rezipienten mitgedacht. Ist ein Text nicht registerkonform, wirkt das irritierend. Das wollen wir uns an einem Beispiel ansehen:
Rotkäppchen 1
Als in unserer Stadt wohnhaft ist eine Minderjährige aktenkundig, welche infolge ihrer hierorts üblichen Kopfbedeckung gewohnheitsrechtlich "Rotkäppchen" genannt zu werden pflegt. Vor ihrer Inmarschsetzung wurde die R. seitens ihrer Mutter über das Verbot betreffs Verlassens der Waldwege auf Kreisebene belehrt. Sie machte sich infolge Nichtbeachtung dieser Vorschrift strafbar und begegnete beim Überschreiten des diesbezüglichen Blumenpflückverbotes einem polizeilich nicht gemeldeten Wolf ohne festen Wohnsitz. Dieser verlangte in unberechtigter Amtsanmaßung Einsicht in den zum Transport von Konsumgütern dienenden Korb und traf zwecks Tötungsabsicht die Feststellung, dass die R. zu ihrer verwandten und verschwägerten Großmutter eilends war. Da bei dem Wolf Verknappungen auf dem Ernährungssektor vorherrschend waren, beschloss er, bei der Großmutter der R. unter Vorlage falscher Papiere vorstellig zu werden. Da dieselbe wegen Augenleidens krankgeschrieben war, gelang dem Wolf die diesfällige Täuschungsabsicht, worauf er unter Verschlingung der Bettlägerigen einen strafbaren Mundraub ausführte. Bei der später eintreffenden R. täuschte er seine Identität mit der Großmutter vor, stellte der R. nach und durch Zweitverschlingung derselben seinen Tötungsvorsatz unter Beweis. …
Rotkäppchen 2
Für das aus der Reaktion eines unbekannten Chemikers mit seinem weiblichen Reaktionspartner, der im folgenden kurz mit dem Trivialnamen Mutter bezeichnet wird, hervorgegangene Produkt hat sich in der internationalen Nomenklatur der Name ’Rotkäppchen’ allmählich durchgesetzt, da das seinen Kopf bedeckende Kunstfasergewebe mit dem roten Phenazinfarbstoff Safranin gefärbt war. Aus einer Veröffentlichung in Carnevalistica Chimica Acta 11,11 entnahm die Mutter, dass der weibliche Reaktionspartner der Reaktion, bei der sie ihrerseits gebildet worden war – im folgenden mit Großmutter bezeichnet – einem Angriff von Stoffwechselprodukten von Bakterien ausgesetzt war. Die Großmutter reagierte exotherm, was an einer negativen Reaktionswärme zu erkennen war, die von ihrer Oberfläche an die sie umgebende Gasphase abgegeben wurde. Zur Erhöhung ihrer Aktivierungsenergie hatte sich die Großmutter auf einem sonst zu Recreationszwecken des menschlichen Körpers dienenden Gestell ausgebreitet. Die Mutter entnahm ihrer Chemikaliensammlung einige Flaschen mit Reagenzien, die geeignet waren, die schädlichen bakteriellen Stoffwechselprodukte nebst ihren Präparatoren aus der Großmutterlauge auszufällen. Die Reagenzien verpackte sie bruchsicher in einem mit Holzwolle ausgekleidetem Traggestell und beauftragte Rotkäppchen, dieses zur Großmutter zu befördern, es ermahnend, nicht das durch silikatische Gesteinsstücke befestigte Wegesystem zu verlassen. …
Rotkäppchen in der Fachsprache der Juristen und Chemiker (zitiert nach Ritz 2000)
An diesen beiden Beispielen lässt sich gut erkennen, dass Sprache und Sache untrennbar zusammenhängen. In der Sprache kommt die Sichtweise des Faches zum Ausdruck und die Sichtweise des Faches wird durch die Sprache bestimmt. Aufgrund des Themas und der Situation, in der ein Text entsteht, werden bestimmte genrespezifische Strukturen und Merkmale erwartet. Treffen diese auf den Text nicht zu, entsteht ein irritierender (im vorliegenden Fall witziger) Eindruck. Das Märchen als Genre verlangt andere Genremerkmale als die hier gewählten fachsprachlichen. Gleichzeitig kann ein solches Beispiel aber auch die Aufmerksamkeit dafür wecken, wie zentral die Wahl des richtigen Genres ist. Ein ungewollter Fehlgriff kann die Kommunikation erschweren und im schlimmsten Fall unmöglich machen. Außerdem kann ein falscher Registerzugriff die Beziehung der Kommunizierenden belasten, da Sprache immer auch Rückschlüsse auf die kommunizierende Person ermöglicht, wie wir an dem Beispiel der missglückten E-Mail gesehen haben. Zur generischen Kompetenz gehört es, dem jeweiligen Kontext und Interaktionszweck entsprechende Genres zu verstehen und selbst verwenden zu können sowie auf der Basis dieser Genre-Merkmale eigene Äußerungen produzieren zu können (vergleiche Hallet 2012: 61). Damit zeigt sich eine Person als einer bestimmten Wissenschaftskultur zugehörig. Wie sich diese in sprachlicher Hinsicht und bezogen auf das Lernen von Deutsch als Fremd- und Zweitsprache auswirken, werden wir im Laufe dieses Bands noch eingehend behandeln. Im Folgenden soll daher nur ein kurzer Einblick in das Thema Wissenschaftskultur erfolgen.
1.3.3 Wissenschaftskulturen
Wie wir gesehen haben, enthalten Fachsprachen „Hinweise auf die Subjekte […], die da fachlich sich miteinander zu verständigen suchen“ (Hess-Lüttich 1999: 212). Dieser Aspekt wird durch die Registertheorie hervorgehoben, die die sozialen Rollen der Subjekte in die Definition von Kommunikation einbezieht. Register sind sprachliche Variationen sozialer Gruppen, in deren Kommunikation die das Fach kennzeichnenden Erfahrungen und Orientierungen weitergetragen werden und „deren Kollektivität Fachlichkeit zuallererst begründet“ (Hess-Lüttich 1999: 212). Wissenschaft und Fachlichkeit können in diesem Zusammenhang als Kulturen begriffen werden, weshalb sich die Bedeutung der fachlichen Ausrichtung für die Sprache gut mit Überlegungen zu interkulturellen Unterschieden fassen lässt. Aber was ist im Hinblick auf Fachsprachen unter Kulturen zu verstehen?
In Lerneinheit 1.2 haben wir uns damit befasst, dass Fachsprache, Bildungssprache und Alltagssprache auf einem Kontinuum der Abstraktion miteinander verbunden sind (vergleiche Roelcke 2010: 34ff). Gegenstände, die also wissenschaftlich erarbeitet wurden, werden zum Beispiel in schulische Materialien eingebunden und damit vermittelt. Zwar sind die hier produzierten Texte nicht an der Erarbeitung und Aushandlung der Gegenstände beteiligt, sie sind aber Teil der (in diesem Fall vermittelnden) Fachkommunikation (vergleiche Roelcke 2010: 38f). Da Gegenstand und Versprachlichung des Gegenstandes untrennbar zusammenhängen, lassen sich fachliche Sachverhalte nur in fachsprachlicher Form begreifen, weshalb sich auf allen Abstraktionsstufen fachsprachliche Mittel nachweisen lassen. Diese Mittel sind Ausdruck des fachlichen Diskurses. Diskurse können charakterisiert werden als Auseinandersetzungen mit einem Thema im Rahmen unterschiedlicher Texte und Äußerungen, innerhalb mehr oder weniger großer gesellschaftlicher Gruppen. Der Diskurs ist jedoch nicht nur zu verstehen als der Austausch und die Aushandlung von Informationen, sondern ebenso als kulturelles Deutungsmusterkulturelles Deutungsmuster, auf dessen Hintergrund die Welt begriffen und kontextualisiert wird (vergleiche Gardt 2007: 26). Diese Vorstellung kann verglichen werden mit einer Art Denkstil, der umfasst, was in einem Fach als Fragestellung, als Problem, als Methode und als zulässiges Ergebnis gelten kann. Denken wir beispielsweise an die Frage, ob es einen Weltgeist gibt. Diese Frage ist für die Biologie nicht zulässig, da sie mit biologischen Methoden nicht erforscht werden kann. In der Philosophie hingegen kann man sich dieser Frage durchaus nähern. In bestimmten Gruppen beziehungsweise fachlichen Kulturen sind also unterschiedliche Fragestellungen gültig. Fachdiskurs und