Bauern, Land. Uta Ruge. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Uta Ruge
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Математика
Год издания: 0
isbn: 9783956144165
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Quellen über sie verzeichnet haben, und vermerkt, dass sie »wegen der Räubereien und Umtriebe« schließlich »zur Anzeige gebracht und amtsseitig vertrieben« wurden.

      Jedenfalls begannen Besiedelung und Urbarmachung des Moores erst nach dieser Vertreibung. Der erste dokumentierte Bewohner war ein Däne namens Peter Wolderich – und ein Däne war er vielleicht nur, weil er von jenseits der Elbe kam, aus Holstein; alles nördlich von Pinneberg und gen Osten rüber zur Insel Fehmarn war dänisch. Peter Wolderich hatte die Fischereirechte des nahe gelegenen Stinstedter Sees gepachtet. Seine Moorhütte, Stall und Scheune sind auf der ersten Generalkarte der Gegend, nämlich die »Kurhannoversche Landesaufnahme von 1768«, eingezeichnet – als erste Feuerstelle und Anfang unseres Dorfs. Erst seit 1754 war überhaupt gerichtlich festgestellt worden, dass »die wilden Moore, soweit sie noch in heiler Haut liegen, der Landesherrschaft gebühren«. Zuvor hatten Bauern aus umliegenden Dörfern die Moore im Sommer, wenn es trocken genug war, als Viehweide genutzt.

      Die Landesherrschaft, die sich jetzt hier im Norden die Moore sicherte, war das Kurfürstentum Hannover. In den Jahren der Moorkolonisation standen Fürsten an der Spitze, die gleichzeitig in Personalunion als Könige das britische Königreich regierten. Als noch absolutistische, aber doch schon aufgeklärte Monarchen dehnten sie ihre Macht aus und kolonisierten neues Land – draußen in der Welt waren es Nordamerika, Afrika und Asien, im Inneren des angestammten Fürstentums die Moore, Sümpfe und Heiden.

      Als man Peter Wolderich den Kauf der gesamten Moorfläche anbot, konnte der den Kaufpreis nicht aufbringen, heißt es in den Dokumenten. Daraufhin habe die Obrigkeit die Urbarmachung durch eine Dorfgründung verfügt. Zwanzig Anbauern* sollten auf ebenso vielen, auf zwölf Hektar bemessenen Hofstellen angesetzt werden.

      Auf seiner ursprünglichen Hofstelle werden durchgängig und bis in meine Kindheit hinein seine Nachfahren wirtschaften, sein Hof wird viele Jahre die größte, weil doppelte Siedlerstelle und reichste Landwirtschaft sein. Bis es am Ende das am stärksten heruntergekommene Anwesen ist, mit einem geizigen und streitsüchtigen alten Mann und seiner Schwester als letzten Bewohnern. Für uns Kinder war es nur noch ein unheimlicher Ort, ein einsames und unbelebtes Geisterhaus am Ende des Dorfs.

      Warum aber sind die Heiden und Moore des Landes im 18. Jahrhundert mit so großem staatlichem Aufwand und über viele Jahrzehnte hin überhaupt besiedelt worden?

      Warum sollte die ›heile Haut‹ der Moore angetastet werden, die Soden entfernt, das Land entwässert werden, warum der Torf gestochen und genügsame Getreidesorten angebaut, Vieh und Bienen gehalten, Bäume gepflanzt und, wo es möglich war, das Land sogar zu Ackerland gemacht werden?

      Schon 1745 hatte Friedrich II. in seinem »Antimachiavell« geschrieben: »Die Stärke eines Staates beruht also nicht auf der Ausdehnung seiner Landesgrenzen, nicht auf dem Besitz einer weiten Einöde oder einer ungeheuren Wüste, sondern im Reichtum seiner Einwohner und ihrer Anzahl; darum liegt es im Interesse eines Herrschers, die Bevölkerungszahl zu heben und das Land zur Blüte zu bringen.« In seinem »Politischen Testament« fügte er zwanzig Jahre später hinzu: »Der erste Grundsatz, der allgemeinste und der wahrste ist der, dass die wahre Kraft des Staates in einer hohen Volkszahl liegt.«

      Der Staat wollte mehr Menschen – als Steuerzahler und Soldaten. Und tatsächlich wuchs die Bevölkerung ständig. Aber ernähren konnte sie sich häufig nicht.

      Besonders traf das auf die Landbevölkerung zu, denn weder das Land noch die Ernte gehörte den Bauern. Die grundbesitzenden Herrschaften forderten Abgaben, die teils noch in Naturalien, meist aber in barem Geld zu zahlen waren. Deshalb gingen im 18. Jahrhundert, sobald es Sommer wurde, immer mehr Männer aus Nordhannover als Wanderarbeiter nach Holland. Die Hollandgänger, wie man sie nannte, arbeiteten als Torfstecher2 und Deichbauern und als Mäher in der Heu- und Getreideernte. Die Arbeiten aber, die man Fremden überlässt, sind immer und überall die schwersten und schmutzigsten. Zu Hunderten und Tausenden zogen nordhannoversche Untertanen im späten Frühjahr los und kehrten erst im September, Oktober zurück. Sie machten das jahre- und jahrzehntelang. Und sie wurden nicht alt dabei. Denn nicht nur die schwersten Arbeiten hob man für sie auf, sondern auch die primitivsten Unterkünfte und das kärglichste Essen. Am Ende aber gab es Bargeld, und davon lebten sie, die Brinksitzer, Häuslinge und Heuerlinge, die nicht-erbenden Bauernsöhne, die sich als Knechte verdingen mussten. So ernährten sie ihre Frauen und Kinder, die, während die Männer fort waren, Hand- und Spanndienste auf den Höfen der Grundherren verrichteten und bei Erntearbeiten der größeren Bauern halfen. Andere Männer arbeiteten in den Häfen, fuhren zur See, gingen in der Saison auf Walfang nach Grönland – viele kamen nicht wieder. Bald wanderten viele nach Amerika aus.

      Es war jedenfalls aus diesem Reservoir einer immer kurz vor dem Verhungern stehenden Bevölkerung, aus der sich die »Anbauer im Moor« rekrutierten. In den Akten dieser Zeit votierten die Räte und Amtsmänner für immer mehr Dorfgründungen. Sie schrieben, man wolle doch die Menschen lieber im eigenen Lande halten und ihre Arbeitskraft nutzen, auf dass der heimischen Wirtschaft aufgeholfen und die neuen Dörfer ihre Abgaben an die nordhannoversche Obrigkeit zahlen würden.

      Das Projekt der Binnenkolonisation nannte man zu jener Zeit gut französisch die Peuplierung, was mit Ansiedlung ganz gut übersetzt ist. Das Wort Melioration stand für die Kultivierung des Bodens. Aber warum konnte sich die wachsende Bevölkerung nicht ernähren?

      Was war der Stand des landwirtschaftlichen Wissens, der Theorie und der Praxis?

      4. KAPITEL

      DAMALS

       Aus einem Stall wird eine Kirche, dann ein Tanzsaal. Wie man im Winter auf Schlittschuhen überallhin kommt.

      GLEICH IN EINEM UNSERER ERSTEN JAHRE IM DORF gab es eine Hochzeit in der Nachbarschaft zu feiern. Wi möt na hochtied – hieß es. Wir müssen zur Hochzeit. Fast das ganze Dorf ›musste‹, und zwar nicht nur feiern, sondern auch bei den Vorbereitungen helfen. Und nach der Trauung einen Umschlag mit Geld überreichen, einen festgelegten Betrag, der den Brautleuten ein großes Fest ermöglichte. Hundert oder sogar zweihundert Gäste waren üblich.

      Meine Eltern lernten schnell. Mein Vater fuhr jetzt mit anderen Nachbarn gemeinsam ›Grünes holen‹, das heißt mit Pferd und Wagen in die noch übrig gebliebene Wildnis eines nahe gelegenen Moores, in dem immer noch Torf gegraben wurde. Dort schlugen sie junge Bäume und Gesträuch, luden alles auf den Wagen und tranken viel Schnaps dabei. Wenn die Männer heimkamen, hatten die Frauen des Dorfs meist das Melken schon besorgt, die Kälber getränkt und vielleicht mit dem alten Bauern, wenn es auf dem Hof einen gab, das Vieh gefüttert. Dann mussten sie ihre schwer angetrunkenen Männer ins Bett bringen. Auch das war für meine Mutter neu.

      Am nächsten Tag banden die Frauen die Kränze. Meine Mutter ließ sich von den freundlichen Nachbarinnen in alles einführen. Sie trafen sich in der Diele des nächsten Nachbarn, einige brachten Butterkuchen mit, einen auf großen Blechen ausgerollten Hefeteig, der mit Mandeln und Zucker bestreut oder mit einem Zuckerguss und geschroteten Mandeln glasiert war. Der war schnell ›abgebackt‹ worden, so nannten sie kurze Backzeiten. Zum Kuchen tranken sie reichlich Kaffee, beredeten alle Neuigkeiten, natürlich auf Plattdeutsch, und später wurde Likör ausgeschenkt.

      Währenddessen errichteten die Männer am Eingang des Hofs ein Tor aus Balken und Latten, das bekränzt werden musste. Alleine für diese Einfahrt hatten die Frauen schon mehrere Meter Kranz aus Tannenzweigen und Papierrosen gebunden, die Eingangstür des Hauses wurde mit einem frischen Laubkranz geschmückt. Dazu kam die fast zwei Meter lange Buchsbaumumkränzung für das Brautsofa – und ein heimlicher Kranz aus Disteln und Brennnesseln für das Brautbett, den irgendwer irgendwann