Bauern, Land. Uta Ruge. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Uta Ruge
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Математика
Год издания: 0
isbn: 9783956144165
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von denen unsere Gegend – das Sietland, das ist das niedrige, ›siete‹ Land zwischen Elbe und Weser – zu fast jeder Jahreszeit heimgesucht wurde. Die Alten erzählten, wie sie dann das Heu zum Trocknen auf den Deich getragen und mit dem Kahn in die Scheunen gefahren haben.

      Manchmal versuche ich mir vorzustellen, ich hätte das Dorf nie verlassen.

      Ich bin 1957 als Kind von Flüchtlingen dort angekommen. Was wäre, wenn ich wie mein Bruder dort geblieben wäre. Er ist nur ein paar Jahre jünger als ich, als Sohn erbte er den Hof. Ganz selbstverständlich war es damals nicht mehr. Aber traditionell war es eben doch so. Ich erinnere mich, was mein Vater sagte, als ich empört rief, es sei nicht gerecht, wenn mir als Mädchen der Hof nicht einmal angeboten würde.

      »Willst du ihn denn haben?«, fragte er.

      Damit hat er mich zum Schweigen gebracht.

      Ich wollte ihn nicht.

      Und wollte ihn insgeheim doch.

      Aber ein halbes Ja und ein halbes Nein, das wäre nicht gegangen. Ganz oder gar nicht. So übernahm mein Bruder zusammen mit seiner Frau den Hof.

1. ANFÄNGE

      1. KAPITEL

      HEUTE

       Die Stimmung auf dem Hof meines Bruders.

      Ich staune.

      »Wachsen oder weichen«, sagt Waldemar, während er mir die Neuerwerbung zeigt. »Und der Große frisst den Kleinen«, sagt er noch. »Das ist immer so gewesen. Und glaub’ man nicht, dass das bei den Biobetrieben anders ist. Dieselbe Technik, dieselben Größen.«

      »Und? Gehörst du selbst inzwischen zu den Großen?«

      »Nein.« Mein Bruder lacht grimmig. »Aber nicht zu den ganz Kleinen. Noch nicht.« Er betrachtet die digitale Anzeige auf der uns zugewandten Rückseite des Melkroboters. »Von den zwanzig Höfen im Dorf sind vier übrig geblieben. Alle anderen haben aufgegeben.«

      Waldemar ist aus dieser Generation der Bauern im Dorf der Jüngste, das Rentenalter hat er noch nicht erreicht und er hat – anders als die meisten hier – einen Nachfolger. Sein Sohn will Bauer werden, ist es schon. Die moderne Technik, wie der Melkroboter, wird über Kredite finanziert, die man kriegt, wenn man Land besitzt.

      Jetzt fallen die Zitzenbecher vom Euter ab und der Roboterarm schwenkt beiseite, um die Kuh freizulassen und das Melkgeschirr sofort zu spülen. Das vordere Gatter öffnet sich, die Kuh bewegt sich ohne Eile aus dem Melkstand hinaus, dann schließt es sich wieder. Erst wenn Zitzenbecher und Milchschläuche mit Wasserdampf gereinigt sind – es dauert nur Sekunden –, öffnet sich das hintere Gatter und lässt die nächste Kuh ein.

      »Nebenan«, Waldemar zeigt zum Nachbarhof, »wird inzwischen Strom produziert, also Gas aus Biomasse. Das wird in Strom umgewandelt und ins Netz eingespeichert. Die Sauen, die sie halten, sind fast nur noch ein Anhängsel. Zwar sind sie einerseits die Grundlage des Geschäfts mit dem Strom, ebenso wie der Mais, der angebaut wird. Aber der Verkauf der Ferkel bringt weniger Geld ein als die – Entschuldigung – Scheiße, die den Strom erzeugt.«

      Wir hören eine Weile schweigend dem Pumpen und Zischen, dem Brummen und Schnaufen der Maschine zu. Der Roboterarm schwenkt unter den Bauch der neuen Kuh, hebt eine Düse direkt unter das Euter, eine desinfizierende Flüssigkeit wird aufgesprüht. Erst dann kommen die frisch gespülten Zitzenbecher angefahren und saugen sich einer nach dem anderen an den Zitzen der Kuh fest. Die hat inzwischen angefangen zu fressen.

      »Wie viele Melkroboter für wie viele Kühe brauchst du, um in ein paar Jahren abgeben zu können?«, frage ich. Die Hofübergabe an die nächste Generation schließt ja ein, dass der Nachfolger seinem Vorgänger ein Altenteil zahlen kann, also lebenslang Wohnung, Nahrung und ein bisschen Bargeld, so wie es mein Bruder und seine Frau Anna mit unseren Eltern gemacht haben.

      Mein Bruder winkt ab. »Die Frage ist im Moment, wie viel Land wir uns leisten können, um genug Futter für das Vieh anzubauen und seine Gülle* loszuwerden. Immer mehr große Stromerzeuger kaufen und pachten Land. Und obwohl weiß Gott genug Bauern aufgeben und viel Land auf dem Markt ist, wird der Boden immer teurer.«

      Mir kommt der Gedanke, dass die Übergabe an die nächste Generation womöglich nicht mehr stattfinden wird. Ich atme tief ein.

      Aber Waldemar hat genug von meinen Fragen. Er steht an der Tür des Melkstands, öffnet sie und ist schon halb draußen, als er noch sagt: »So ist das nämlich. Ihr wollt ja alle Biostrom. Aber ihr habt keine Ahnung.«

      Mit ›ihr‹ sind immer alle Städter gemeint – oder doch alle, die keine Landwirtschaft betreiben. Zu diesem ›ihr‹ zähle auch ich seit vielen Jahren.

      Auf dem Weg ins Haus gehe ich vorbei an den neugierig ihre Köpfe durchs Futtergatter steckenden Jungrindern. Ein paar Katzen begleiten mich zur Haustür.

      Die Hündin ist mit meinem Bruder gegangen.

      Seit ein paar Tagen stehe ich morgens um sechs zusammen mit allen anderen auf, um zu sehen, zu hören, zu riechen, wie sich Landwirtschaft heute anfühlt auf dem Hof, auf dem ich aufgewachsen bin. Ich ziehe die Stallklamotten an und gehe nach draußen. Erst nach ein paar Tagen fällt mir auf, dass ich hier den Blick nicht heben muss, um den Himmel zu sehen. Kein Haus ist im Weg. Und ob es regnet oder bald regnen wird, wie der Wind geht, ist sofort gewusst, in Auge und Ohr und Nase eingeströmt.

      Ich gehe mit ihnen in den Stall, aber ich laufe nur so mit – mal mit meiner Schwägerin Anna, die für die Kälber verantwortlich ist, mal mit meinem Bruder, der im alten Melkstand steht, mal mit ihrem Sohn Hannes, der für die Fütterung sorgt und den Roboter kontrolliert. Helfen kann ich nicht, denn kein Handgriff ist noch so, wie ich ihn kannte. Die Gebäude, die Maschinen, alles ist anders. Aber der Sonnenaufgang über den Bäumen und Weiden vor dem Hof ist derselbe. Immer schon lag das stärkste Licht am Morgen auf der Hofeinfahrt vor dem Stall. Immer schon wuselten ein paar Katzen, junge und alte, vor der Milchkammer umher, und immer schon lag in ihrer Nähe der Hund, der aufpasste, dass ihm nichts entging, vor allem kein Futter im nebenbei gefüllten Napf. Und der Stall ist immer noch ein einziger großer Organismus, Ort der Tiere, ihres Atmens, Fressens und Verdauens, ihres Wiederkäuens, ihrer Ausscheidungen und ihres Schlafs, ihrer Ruhe und manchmal ihrer Unruhe. Und der Ort von ineinandergreifenden Arbeitsabläufen.

      Ich gehe da hindurch, über die Futtergänge und an den Barrieren entlang, die Tiere, fast hundert Kühe und vielleicht vierzig Jungrinder, sehen mich mit gesenkten Köpfen neugierig an.

      Alles ist unter einem Dach angeordnet. Es gibt den Bereich, in dem lahmende Kühe oder diejenigen, die aus anderen Gründen nicht ganz fit sind, auf Stroh laufen und liegen dürfen, sozusagen die Krankenstube; sie können durch das den ganzen Stall durchziehende System sich öffnender und schließender Gatter zum Melkstand geführt werden und aus ihm zurück in ihren Bereich gehen. Neben ihnen stehen ebenfalls auf Stroh die Kühe, die demnächst kalben und – im Unterschied zu den ›melkenden Kühlen‹ – ›trocken stehen‹. Eine oder zwei haben vielleicht schon gekalbt, und dann liegt zwischen ihnen ein frisch geborenes Kalb, das sich auf zittrige Beine erhebt und nach dem Euter der Mutter sucht. Heute sind es sogar zwei, die sich manchmal zur falschen Kuh verirren, aber immer wieder