Trauung, Hochzeitsessen und Tanz fanden am nächsten Tag allesamt auf der Diele im Haus des Bräutigams statt, unseres Nachbarn zur Rechten. Es war, wie damals noch alle Häuser hier, ein niedersächsisches Hallenhaus, der Giebel im typischen Fachwerkstil gehalten, weiß gestrichene Balken teilten das Mauerwerk in Fächer auf, und das große Dielentor, de Grotdör, war im selben Grün gestrichen wie die beiden kleineren Türen rechts und links, die auf die Viehgänge führten, links standen die Pferde und rechts die Kühe. Hoch bepackte Erntewagen mit Heu oder Stroh konnten von Pferden oder auch dann den ersten Traktoren direkt auf die Diele gezogen werden oder rückwärts hineinbugsiert. In der hohen Balkendecke gab es eine Luke, durch die Heu und Stroh nach oben auf den Boden zur Winterlagerung gepackt wurden. Von der Diele aus, die auch bei uns noch aus Lehm gestampft war, fütterte man das Vieh. Rechts und links verliefen die dafür auf einen gemauerten Sockel gesetzten Krippen, hinter denen die mit Ketten befestigten Kühe und Rinder und ein bisschen abgesondert davon die Pferde standen. Aber man hatte auch Holzwände über den Krippen angebracht. Und so konnten nach dem Melken und Füttern, und wenn alle Arbeit im Stall getan war, die schweren Klappen, die an den Krippen nach unten hingen wie offene Türen in ihren Angeln, angehoben und am oberen Rand mit Holzknebeln befestigt werden. Damit war dann die Diele ein Raum für sich geworden und das Vieh aus dem Blickfeld verschwunden, auch wenn man es dahinter während des Tanzes noch rumoren hörte.
Die Diele unseres Nachbarn ist für die Hochzeitsfeier jetzt zusätzlich mit einem Holzboden ausgelegt, und am Ende des so entstandenen Saals ist der Altar aufgebaut. Davor steht der Pastor.
Zum ersten Mal sehe ich einen Mann in einem langen schwarzen Kleid. Er hat einen weißen Kragen um und macht ein ernstes Gesicht. Während alle singen, muss ich vor dem Brautpaar Blumen streuend auf ihn zugehen. Kurz vor ihm soll ich nach rechts abbiegen. Aber das habe ich vergessen, ich bleibe stehen und blicke zu ihm hoch. Meine Mutter, die seitlich in den Kulissen steht, zieht mich zu sich.
Dann kniet das Brautpaar schon vor dem Pastor nieder. Man hat dicke Kissen auf den Holzboden gelegt, damit die gute Kleidung nicht beschmutzt wird. Und damit die Braut sich leichter wieder erheben kann, ohne ihr Kleid zu verziehen oder den langen Schleier einzureißen.
Auch das Paar ist ernst – und sehr jung, beide sind keine zwanzig Jahre alt. Die älteren Frauen weinen. Das ganze Dorf ist gekommen, ungefähr achtzig oder hundert Menschen stehen in der Diele, nur die engsten Verwandten sitzen. Es gibt kaum jemanden, der mit der Braut und dem Bräutigam nicht irgendwie verwandt oder verschwägert ist, außer uns und noch ein paar anderen Flüchtlingsfamilien.
Nach der Trauung wird noch einmal gesungen. Die Bläsergruppe des Schützenvereins spielt. Die Gemeinde singt: »So nimm denn meine Hände und führe mich bis an mein selig Ende und ewiglich. Ich kann allein nicht gehen, nicht einen Schritt. Wo du wirst geh’n und stehen, da nimm mich mit.« Es ist mein erstes Kirchenlied. Ich singe und weine mit, vom Ernst der Worte und der Feierlichkeit der Gesichter überwältigt.
Endlich lächelt der Pastor nun doch und die Gäste rascheln und husten und schnauben kräftig in die Taschentücher. Dann stellen sie sich paarweise zum Gratulieren an und übergeben das Kuvert mit dem Geldgeschenk. Wer mit dem Brautpaar angestoßen hat – Schnaps für die Männer, Likör für die Frauen –, hilft beim Hereinschaffen der Stühle und Bänke. Die Frauen decken die Tische mit weißen Tüchern, tragen das Geschirr auf und legen das Besteck aus. Wir Kinder laufen zwischen ihnen herum und stören und werden irgendwann auf den Hof gescheucht. Da stehen einige Männer vor dem Dielentor, ein wenig steif in den ungewohnten Anzügen, redend und rauchend. Onkel Edu ist auch dabei und legt mir, als ich schüchtern an ihnen vorbeigehe, kurz seine harte Hand auf den Kopf. Na, min Deern.
Da bin ich verlegen und auch ein bisschen stolz, denn so gehöre ich jetzt etwas mehr dazu. Auch die anderen Männer gucken zu mir runter. Es kommt mir vor, dass ich keinen von ihnen kenne. Aber vielleicht liegt das auch nur an den Sonntagsanzügen. Während ich mich langsam entferne, höre ich, wie Onkel Edu den anderen erklärt, wer ich bin. De Lütte von denn Niegen. Die Kleine vom Neuen. Die Große ist meine Schwester.
Die Alten haben sich inzwischen auf die Bänke im Saal gesetzt und viele Kinder schliddern über den glatten Boden, hüpfen, rufen, rennen wild durch den Saal. Junge Männer fahren sich mit dem Zeigefinger in die Hemdkragen und lockern ein wenig die zu stramm gebundenen dünnen Schlipse. Eine der jungen Frauen, deren hoch toupiertes Haar ich schon von Weitem bewundert habe, hält sich mit einer Hand am Oberarm eines Mannes fest und hebt erst den einen und dann den anderen Fuß, um mit dem Gesicht über die rechte und dann die linke Schulter blickend zu prüfen, ob sie mit den Pfennigabsätzen ihrer Schuhe womöglich Dreck mit in den Saal gebracht hat. Die vor der Dielentür Stehenden reden und rauchen weiter, und wenn eine der Ehefrauen vorbeikommt, zieht sie ihrem Mann die Hand aus der Hosentasche, weil dies ein Festtag ist und sich nicht gehört – jedenfalls solange der Pastor noch da ist.
Wenn alle Tische und Bänke aufgebaut und die Tische gedeckt sind, nimmt das Brautpaar, wo eben noch der Altar gestanden hat, auf dem bekränzten Sofa Platz, die Brauteltern und der Pastor sitzen bei ihnen. Dann tragen die jungen Leute des Dorfs mit musikalischer Untermalung in schnellem Schritt und Gleichmarsch die Hadelner Hochzeitssuppe auf – große Schüsseln mit Rindsbrühe und Reis, kleinere mit Rosinen, dazu große Platten mit Rindfleisch. Meine Eltern werden aus dem Augenwinkel die Nachbarn beobachtet haben. Zuerst nahm man sich also ein großes Stück Fleisch und schnitt es im Suppenteller in Stücke, dann häufte man Reis drauf, streute Rosinen drüber, und als Letztes kam aus großen Kellen die mit kleinen, würzigen Fleischbällchen reichlich bestückte Brühe hinzu. Jeder mischte sich die Anteile nach seinem Geschmack, dazu gereicht wird Bier und Schnaps.
Wenn alle gesättigt sind, räumen die jungen Leute wieder ab – und der erste Tanz, zu dem die drei oder vier angeheuerten Musikanten aufspielen, gehört ihnen, noch vor dem Ehrentanz des Brautpaars.
Alles das mussten unsere Eltern kennenlernen und sich darin einfügen. Denn alles war neu für sie: die Menschen, ihre Haltungen und Gebräuche, von der Architektur – den strohbedachten Häusern und Ställen – bis zu den Gerichten – Hochzeitssuppe, Butterkuchen, aber auch Bratkartoffeln mit Rhabarberkompott zum Mittag. Vor allem aber der Grund und Boden für alles, die Landwirtschaft, die aus dieser Moorerde folgte, die Geräte, mit denen der Boden bearbeitet wurde, die Holzschuhe für Mensch und Tier – auch Pferden wurden im Moor Holzschuhe angeschnallt, damit sie nicht so tief einsanken. Dazu kam die Sprache, das andere Plattdeutsch, das hier gesprochen wurde und das ihnen völlig unbekannte Wörter enthielt. Dass ein Escher ein Spaten bedeutete und ein Leuwagen ein Besen – wer konnte das ahnen?
Am schwierigsten aber war es, sich an das viele Wasser zu gewöhnen. Man musste die verschiedenen Namen der Gräben lernen, die als kleine Gräben Grüppen hießen, auf der Grenze zum Nachbarn waren sie Grenzgräben, und der besonders breite und tiefe Graben, der durch das ganze Dorf führte, nannte sich, wie gesagt, die Wettern, ausgesprochen »Weddern«, »de Weddern«. Dazu gab es noch Kanäle und Vorfluter. Und den Hadler Kanal, der war der größte und schon etwas weiter weg.
Die Wettern war die Grenze des Hofs zur Straße, zum Dorf. Von der Straße aus, die parallel zur Wettern lag, führten kleine Brücken zu den Höfen. Sie waren zwischen Dorf und Hof die Übergänge für Mensch und Tier. Dicke hölzerne Pfähle, in deren Angeln die beiden Flügel der Pforte hingen, standen links und rechts an der Wettern. Sie waren weiß gestrichen, und wer Vieh durchs Dorf trieb, ließ gerne eines der Kinder vorauslaufen, das die Pforten schloss, damit die Rinder oder Schweine oder Schafe nicht auf die Nachbarhöfe liefen. Sonst waren sie selten tagsüber geschlossen, und bei uns fehlte von Anfang an der linke Pfortenflügel. Der rechte hing, dadurch sinnlos geworden, noch lange an dem bald schon gänzlich seitwärts geneigten Pfahl. Nie kam unser Vater dazu, ihn zu reparieren oder abzubauen, und einen Altenteiler, einen Opa, der sich mit solchen Reparaturarbeiten hätte beschäftigen können, hatten wir nicht. Es dauerte nicht sehr lange, bis auch der Rest der Pforte verschwand. Nur der Pfahl auf der rechten Seite mit seinen rostigen Angeln stand noch ein paar Jahre lang da. Immerhin markierte er fürs Auge die Begrenzung der Überfahrt. Denn im Sommer setzte