Einmal besuchten uns Vater und Onkel meines Vaters, beides ehemals Bauern auf Rügen. Mein Vater nahm sie an einem regnerischen Vormittag mit zu einer Feldbegehung, wollte ihnen Dorf und Hof und Felder zeigen. Die schwarzen Gummistiefel, die sie dafür brauchten, standen bei uns im Flur. Für unsere Verwandten hatten wir sie in allen möglichen Größen griffbereit, denn ohne sie waren die verloren, versanken meist schon beim ersten Schritt aus dem Auto bis zu den Knöcheln im Matsch.
Nach Stunden kamen die Männer erschöpft und nass zurück. Während mein Vater noch die Milchkannen von der Straße holte, kamen die beiden Alten gleich ins Haus. Langsam zogen sie ihre Stiefel, die großen Mäntel und Jacken aus. Schweigend gingen sie in der Küche an meiner Mutter vorbei, die das Mittagessen warm hielt. Im Esszimmer stellten sie sich mit den Rücken an den mannshohen Kachelofen und wärmten sich. Dann sagte einer von ihnen kopfschüttelnd zum anderen: »Wi möten em ihrst noch dröchleggen.« Wir müssen ihn erst noch trockenlegen – die alten Männer den jungen Mann, wie ein Wickelkind. Nur dass es hier um die Entwässerung aller Ländereien ging. Durch ihren Pfeifen- und Zigarrenrauch hindurch lachten sie leise über ihren grimmigen Scherz.
Onkel Edu ist unser Nachbar zur Linken. Ich sehe ihn an einem frühen Sommerabend mit der hölzernen Trage – de Dracht – über der Schulter, rechts und links ist je eine Milchkanne eingehängt. Er geht zum Melken, seine vier oder fünf Kühe stehen auf der Weide vor dem Hof. Er trägt eine helle, sehr ausgebeulte Manchesterhose, eine ausgebleichte, hellgraue Drillichjacke und einen Hut. Ich laufe rüber zu ihm.
Darf ich zugucken?
Vielleicht habe ich auch gar nichts gesagt und bin nur stumm und ein paar Schritte Abstand haltend mit ihm zur Weide gegangen, wie Kinder auf dem Land das damals taten. Die Kannen sind noch leer und baumeln ein bisschen, und sie würden ihm gegen die Hüften schlagen, wenn er sie nicht mit seinen großen Händen an den Haken, mit denen sie an den Ketten hängen, ein wenig festhalten würde.
Na, min Deern.
Er trägt helle Holzschuhe. Es sind die normalen, nicht die schwarz lackierten mit dem üppigen weißen Schaffell, das sich von innen nach außen über den Span zieht. Die sind für gut. Diese hier, die er alltags anhat, sind reichlich ausgetreten, die Holzsohlen dünn geworden, sie klingen hell, vor allem auf der Betonstraße, die wir überqueren, um zu seinen Kühen zu gehen. Da weiß ich noch nicht, dass er selbst als Bürgermeister viele Jahre um den Bau dieser Straße gekämpft hat.
Am Rande der Weide hängt er die Kannen aus und legt die Trage ab, leise klirren dabei die dünnen Ketten. Dann legt er ein frisches, weißes Tuch zwischen zwei feine, runde Siebe und drückt sie zusammen in den Ausfluss des bauchigen, schüsselartigen Behälters, durch das die frische Milch in die Kannen gegossen wird. Ich muss mir alles genau angucken, denn bei uns ist es anders, wir melken mit der Melkmaschine und unsere Kühe werden zum Melken in den Stall geholt. Inzwischen habe ich keine Angst mehr vor ihnen, aber als die ersten beiden eigenen Kühe im Stall gestanden hatten und nach ihrer alten Herde brüllten, hatten meine Schwester und ich laut geschrien und waren rausgerannt.
Onkel Edu setzt das Sieb auf eine Kanne, nimmt einen umgestülpten Eimer, der zusammen mit dem Sieb unter einem weißen Tuch im Gras gelegen hat, er packt sich den Melkschemel, der nur ein Bein hat – unsere haben drei Beine –, und geht mit einem freundlichen Brummen auf eine der vier oder fünf Kühe zu. Dann setzt er sich mit seinem großen Erwachsenenhintern auf den kleinen Schemel sehr nahe an die erste Kuh, legt seinen Kopf in ihre Flanke, der Hut rutscht ihm dabei ein wenig in den Nacken, und beginnt zu melken. Zuerst klingt der Milchstrahl in dem noch leeren Eimer hell auf, aber bald ist genug Milch unten im Eimer und der Klang wird immer voller und dunkler, die Milch schäumt im Eimer auf.
Ich habe mich ein paar Schritte entfernt ins Gras gesetzt und einen Halm in den Mund genommen. Das habe ich mir bei Onkel Edu abgeguckt.
Er spricht anders mit den Kühen als unsere Eltern, wie sie hier sowieso ein anderes Platt sprechen, und ich lausche, um das Wort zu hören, das er sagt. Aber nur selten murmelt er beruhigend sein »Kischi, kischi, kischi«, wenn die Kuh ein Bein hebt oder sogar einfach weggeht. Dann erhebt er sich von seinem Schemel, den er im Aufstehen geschickt greift und aufnimmt, geht der Kuh nach, setzt sich wieder zu ihr, sagt ein bisschen vorwurfsvoll: »Wi sünd noch nich fardich«, und melkt weiter.
Aber meistens ist es dann nicht mehr viel Milch, die noch kommt, die Kuh hat schon gemerkt, dass er jetzt gleich fertig ist. Am Ende erhebt er sich, nimmt Melkeimer und Schemel in der Bewegung auf und gibt ihr einen leichten Klaps.
So, nu sünd wi fardich.
Ich stehe auch auf, vielleicht weil es sich so gehört, wenn ein Erwachsener aufsteht, vielleicht will ich auch nur genauer sehen, was als Nächstes passiert. Er gießt die Milch durch das Sieb in die Kanne und sieht mich belustigt an.
Na, kannst du auch schon melken?
Ich schüttele verlegen den Kopf.
Na, denn komm mal her.
Und er zeigt es mir bei der nächsten Kuh.
Das ist eine Ruhige, sagt er, die schlägt nicht – und er hält ihr leichthin den Schwanz fest, damit sie mir den nicht um die Ohren haut.
Drücken und ziehen gleichzeitig, sagt er. Mach man. Keine Angst, es tut ihr nicht weh. Nach einer Weile, in der ich mich erfolglos abmühe, sagt er: Mehr drücken als ziehen.
Endlich kommen ein paar Tropfen – aber den breiten Milchstrahl, den er gemolken hat, kriege ich mit meiner kleinen Hand nicht hin.
Na, lot mi man weller.
Er streicht der Kuh beruhigend über den Rücken, die jetzt doch ein paar Schritte weitergegangen ist und sich irritiert nach mir umgesehen hat.
Dann melkt er weiter.
Langsam drifte ich weg, gehe zurück zu unserem Hof.
Am Ende sehe ich ihn, inzwischen wieder von unserem Haus aus, wie er langsam mit der Last der beiden vollen Milchkannen an der Trage zurück zu seinem Hof geht.
Das Wichtigste hier sind die Nachbarn. Im Moor kam es darauf an, einander beizustehen. Kein Siedler erhob sich über den anderen, fast alle waren gleich arm.
»Was für ein Glück, dass wir hier gelandet sind«, sagte unser Vater immer.
Onkel Edu hatte beim Verkauf des Hofs an unsere Eltern mitgeholfen, er war hier der Bürgermeister. Zusammen mit dem Makler war er mit unserem Vater über den Hof und die Felder gegangen und hatte ihm alles gezeigt, die Gräben und Zäune, Kanäle, Wege und Deiche. Gesagt hat er dabei sicher nicht viel, das war nicht seine Art.
»Du müsst hölpen«, hat er vielleicht gesagt. Hier duzte man sich umstandslos. Und einander zu helfen, das war nicht ein irgendwie und manchmal und vielleicht Zur-Hand-Gehen. Vielmehr war es die Verpflichtung zur gegenseitigen Nachbarschaftshilfe. Das Gesetz der Moorbauern.
3. KAPITEL
MITTE 18. JAHRHUNDERT
Was die Schulchronik sagt und was sie verschweigt. Wem gehört das Moor? Als Torfstecher nach Holland.
WIR BEFINDEN UNS UNGEFÄHR IM JAHR 1750.
»Zigeuner« lebten in einer Erdhütte am nördlichen Rande unseres späteren Dorfs, so heißt es in der »Geschichte des Dorfs«, wie sie 1899 der Dorfschullehrer Offermann in seiner Schulchronik aufschrieb. Was seine Quelle war, verrät er uns nicht. Ich nehme an, es war das Hörensagen. Wie groß diese Gruppe angeblicher Zigeuner war, aus wie vielen Familien sie bestand, wie lange sie hier lebten – so nahe der Nordsee im Nirgendwo – und woher sie kamen, solche Fragen fallen nicht in die Zuständigkeit des Dorfchronisten. Vielleicht hatten sie beschlossen, sesshaft zu werden. Oder die Erdhütte inmitten eines weitläufigen, unbesiedelten Moores war nur ein Art Rückzugsort für sie, eine halbwegs feste Bleibe, von der aus sie ihren Geschäften nachgehen konnten, dem Pferdehandel, Messerschleifen, Kesselflicken, Korbflechten,