Der beinahe Achtzigjährige ist kräftig und beweglich. Zwar hat inzwischen die Tochter den Betrieb übernommen, aber meist ist der freundliche Mann immer noch den ganzen Tag mit im Betrieb oder auf Baustellen. Er ist zuständig für die ›alten Sachen‹, weil er sich auskennt mit alten Häusern und Ställen, die renoviert oder ausgebaut werden sollen. Früher war er mehr mit dem Neuen beschäftigt, unser Boxenlaufstall von Anfang der 1970er-Jahre war eine seiner ersten Bauleitungen.
Wir trinken Kaffee.
»Im 18. Jahrhundert«, sagt er, »und vermutlich auch schon im 17. Jahrhundert, hat man die Fachwerkbauten auf große Torfsoden gesetzt, die in eine Art Fundamentgräben eingesenkt wurden. Diese Torfsoden waren etwa 40 mal 50 mal 60 Zentimeter groß, stark ausgetrocknet und daher verdichtet. Auf die legte man Balken und hat auf denen dann den Holzrahmen für das Haus errichtet. Im Winter hat sich der Torf mit Wasser vollgesogen und das ganze Haus angehoben. Im Sommer trockneten die Soden aus und das Haus senkte sich wieder. Die Hoffnung war immer, dass sich das Gebäude gleichmäßig hob und senkte – was aber natürlich nie der Fall war. Es gab immer Risse in den Böden und Wänden.«
»Welches Material hatte man?«
»Das war es ja eben: Holz und Steine gab es anfangs nicht.« Die neu angepflanzten Bäume brauchten ein paar Jahrzehnte, bis sie als Bauholz genutzt werden konnten. Und bevor man alle Baumaterialien einzeln transportierte, brach man nicht selten ein ganzes Haus woanders ab und transportierte alles – Holz, Steine, Fenster und Türen – auf Pferdewagen hierher. Ein Beispiel dafür ist laut Dorfchronik die erste Schule unseres Dorfs. Aber bald wurden Ziegeleien im Umkreis gegründet und versorgten die Bewohner mit Ziegelsteinen.
»Als Nächstes«, sagt er, »hat man für die Fundamente erst gestampften Lehm, später Rotstein genommen, also gebrannten Stein, aber ohne Mörtelverbindung. Diese Fundamente wurden leicht nach außen ausgestellt, wurden also nach unten hin breiter gesetzt und verjüngten sich nach oben hin – wie bei einer Pyramide.
Ich zeichne es mir auf.
»Immer wieder wird behauptet, die Häuser hier wären traditionell auf Pfähle gestellt worden. Was hat es damit auf sich?«
»Ja, das gab es auch. Aber erst, als genug Bauholz zur Verfügung stand.«
»Wie muss man sich das vorstellen?«
Er erklärt, ich zeichne den Grundriss nach seinen Angaben.
Im Abstand von einem Meter wurden lange Holzpfähle, meistens aus Eiche, als Träger für die Außenwände in den Boden gerammt, dazu meistens noch eine Linie entlang der Mittelachse für eine tragende Wand – das war bei den Bauern die Wand zwischen Vieh- und Hausteil. Die Länge der Pfähle bemaß sich nach der Stärke der Moorschicht.
»Bei euch im Dorf war sie eigentlich nicht so stark«, sagt er, »etwa einen Meter, dann war man schon auf Sand. Aber hier nebenan geht es bis zu acht Metern tief.«
Das Wichtigste an dieser Bauweise ist gewesen, dass die Pfähle unterhalb des Grundwassers blieben, also immer im Feuchten standen, um sich nicht zu zersetzen. Durch die Entwässerung und das Absacken des Moors gerieten viele Pfähle jedoch mit ihren Köpfen oberhalb des Grundwassers. »Und da begannen sie zu verfaulen, weil Luft rankam.« Und wieder sackten die Häuser.
»Als bessere Wege und Transportmöglichkeiten vorhanden waren, setzten manche Felssteine als Fundamente.«
»Aber die sacken doch auch weg«, wende ich ein.
»Richtig«, sagt er. »Alles versackt im Moor. Deshalb war eine leichte Bauweise wichtig, so wie das Fachwerk.«
»Und die Bedachung durch Stroh«, füge ich an.
Aber da schüttelt er den Kopf. »Nur bei Trockenheit ist das Strohdach leicht. Wenn es sich voll Wasser saugt, ist es mindestens so schwer wie ein Ziegeldach.«
Bei vielen Neubauten zwischen den 1880er- und 1920er -Jahren wurden Dächer immer seltener noch mit Stroh gedeckt. Zwar waren Strohdächer immer noch billiger, aber sie müssen auch aufwendig gepflegt werden, gegen Moosbewachsung geschützt und gründlich ausgebessert, wenn ein Sturm sie zerpflückt. Und die Feuerversicherung wurde unbezahlbar. Es folgten Lehmziegeldächer, und wer sich die nicht leisten konnte, deckte das Dach mit Pfannenblechen, deren Nachfolger in den 1950er-Jahren das Eternit bzw. Wellenasbest war.
Sein Haus besitzt ein Krüppelwalmdach, einen ›Pony‹ über dem Giebel. Früher verschloss man das obere Dreieck im spitz zulaufenden Giebel durch Bretter und ließ darin ein Eulenloch frei; man bot Eulen und Käuzen gerne Wohnung, denn sie waren nützlich, weil sie Mäuse fraßen.
Woraus machte man die Fußböden?
Die bestanden anfangs für Mensch und Tier aus gestampftem Lehm. Als für Menschen dann Holzbohlen benutzt wurden – jedenfalls für die Schlafstuben, weil es das wärmere Material war –, verwendete man für die Ställe immer öfter Rotstein, das waren Ausschussziegel, die auch für Küchen und Waschküchen benutzt wurden. Die nächste Stufe waren dann Fliesen, und wir zeichnen beide die traditionell verwendeten Muster für die hiesigen Flure und Küchen auf, an die wir uns erinnern, wie Salmiakpastillen sternförmig gelegt in Beige und Schwarz, an den Rändern ein römisches Muster wie das Fragment eines Labyrinths.
Als ich ihn zum Abschluss frage, was er mir raten würde, wenn ich vorhätte, im Moor zu bauen, sagt er nach kurzem Schweigen: »Da würde ich abraten. Man hat eigentlich immer nur Ärger damit.«
10. KAPITEL
ENDE DES 18. JAHRHUNDERTS
Goethes Eckermann als Kind. Die Dorfschule und Streit um Kirchenplätze für Moorbauern.
IN BIBLIOTHEKEN UND ARCHIVEN suchte ich weiter nach schriftlichen Zeugnissen bäuerlichen Lebens im 18. Jahrhundert. Aber wie ein Sozialhistoriker einmal schrieb, waren die Bauern vor dem 19. Jahrhundert »eine stumme Schicht«. Ihre Probleme, stellte er fest, schlügen sich selten schriftlich nieder. »Des Schreibens unkundig oder ihm doch nicht zugetan, haben Bauern kaum Quellen hinterlassen: Es fehlen die Tagebücher, Briefe, Taxationen, Rechnungen und andere Unterlagen der Wirtschaftsführung, wie sie Gutsbesitzer verfasst haben. Diese Schwierigkeiten ändern aber nichts an der Grundtatsache, dass die deutsche Agrarwirtschaft auch im 18. Jahrhundert im wesentlichen Bauernwirtschaft war. Sie hat überall die ökonomische Grundlage der Landwirtschaft gebildet.«
Wesentlich besser dokumentiert ist Goethes Leben – und dort stieß ich immerhin auf jene Männer, die Goethe als Diener, Schreiber und Kutscher beschäftigte. Auch deren Väter sind keine Bauern gewesen, sie stammten meist aus den zünftigen und auch nicht mehr zunftgebundenen Handwerksberufen, waren Spengler, also Klempner, Bäcker, Regimentsmusiker, Korbmacher und Zeugmacher, also Wolltuchweber, ein Stubenmaler war dabei, schon damals ein Lehrberuf, ein Krämer und ein Schwertfeger, Letzterer ein spezialisierter Waffenschmied.
Aber dann fand ich Johann Peter Eckermann.
Der später durch seine »Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens« berühmt gewordene Eckermann hat sich immer dagegen verwahrt, er sei ein ›Diener‹ Goethes gewesen – vielmehr sah er sich selbst als Dichter und Freund, der bei editorischen und organisatorischen Aufgaben half. Bei den feineren Freunden des Ministers hat er dennoch immer ein wenig als Faktotum gegolten. Die Schriftsteller und Gelehrten in Goethes Umkreis spotteten über ihn, über seine literarischen Ambitionen und vor allem über seine mangelnde Bildung. Seine Herkunft war nämlich sehr ähnlich der von Goethes Dienern.
Tatsächlich hat Johann Peter Eckermann eine kurze Beschreibung seiner zwar nicht bäuerlichen, aber doch nahezu bäuerlichen Herkunft hinterlassen. Sie steht an prominenter Stelle, nämlich im Vorwort zu seinem