Später im Jahr, als ich einmal wieder einen Besuch ganz für mich im Buschhof machte, entdeckte ich an der Stelle der bleichen Stängel – nichts. Sie waren weg. Jedenfalls glaubte ich das. Aber dann fielen mir die Pflanzen auf, die ich im Frühjahr noch nicht hier gesehen hatte, mit grünen Stängeln, aus denen in regelmäßigen Abständen ein Kranz sehr simpler Ästchen spross – Schachtelhalme im Sommer. Sie waren jetzt weniger ärmlich anzusehen als in ihrer Frühlingsnacktheit, dafür gewöhnlicher, und fielen kaum noch auf. Dass und wie besonders sie waren, verstand ich erst, als ich sie jahrzehntelang nie und nirgends mehr gesehen hatte, nur einmal noch in einem botanischen Garten.
Aus den Handreichungen der kleinen Kinder wurden Aufgaben, wurden Pflichten, wurde Arbeit. Mit uns wurde gerechnet.
Und als es ernst wurde, war uns alles schon vertraut. Die Hitze im Sommer beim Rübenhacken und beim Heumachen, dazu Mückenstiche und der eigene Schweiß. Im Winter waren es dann Kälte, Frost und Schnee, gegen die man Handschuhe, Schals, Stiefel aufbot, und Geduld, Hartnäckigkeit, Trotz. Wir kannten die Griffe, das Anheben und Tragen und Absetzen, das Ziehen und Über-den-Boden-Schleifen, das Fegen und Bürsten, Rühren und Schälen, Rupfen und Schrubben. Wir kannten Nässe, Dreck, Gestank und Gewicht. Wir fassten an, was rau und stachelig war, verkrustet, glatt oder schleimig verklebt. Setzten den eigenen Körper an gegen die Schwere der Gegenstände und den Widerstand der Tiere. Schoben, hoben, trugen. Säuberten Ställe und Futterkrippen, streuten ein mit staubigem Heu oder kratzendem Stroh. Stießen mit Ellenbogen und Knien gegen Holz, Stein und Metall, und wenn es schmerzte, fluchten und schimpften wir laut mit Holz, Stein und Metall. Aber wenn wir den Erwachsenen anklagend oder gekränkt die neuen Schrammen zeigten, winkten sie ab oder sagten nur: »Alles faules Fleisch, muss alles noch weg.« Unsere kindlich-ungelenken Körper mussten noch mehr Geschick entwickeln, mehr Kraft und Tempo. Und das geschah dann wohl auch.
Gegen die Erwachsenen jedenfalls half nichts. Und gegen die Arbeit auch nicht. Sie musste getan werden.
12. KAPITEL
DAMALS
Wie unsere Eltern Moornachbarschaft kennenlernen.
WENN WIR MORGENS NACH DEM VIEHBESORGEN noch beim Frühstück saßen, kam oft einer der Nachbarn vorbei. Der Hund hatte ihn meistens schon angekündigt. Mal war es Onkel Edu, mal Egon, der junge Mann von nebenan, der in unserem zweiten Jahr in Neubachenbruch geheiratet hatte. Wer es auch war, er rief schon vom Eingang her »Moin« und klopfte an die Tür, auch wenn sie schon offen stand. Nur ganz selten war es eine Frau, denn die Bäuerinnen standen um diese Uhrzeit schon am Herd und bereiteten das Mittagessen vor. Im Dorf stand fast überall pünktlich um zwölf Uhr das Essen auf dem Tisch – immerhin war man gegen fünf oder sechs Uhr morgens zum Melken aufgestanden.
Wer es auch war, er wurde aufgefordert, einen Kaffee mitzutrinken, tat es jedoch nie, war immer in Eile und wollte entweder ein Gerät ausleihen oder um Mithilfe bei einer Unternehmung bitten, die traditionell gemeinsam gemacht wurde. Das ging von der Hilfe beim Kuhkalben über tagelange Bauarbeiten bis hin zu Fahrten über Land zu Versteigerungen oder Vieh- und Maschinenkäufen. Aber in der Regel setzte sich der Besucher wenigstens kurz hin.
»Sett di dal, süss räd ik nich mit di«, sagte mein Vater. Setz dich, sonst spreche ich nicht mit dir. Nur wenn es um das Kalben einer Kuh ging, durfte der Nachbar gleich weiterziehen zum nächsten Nachbarn. Sonst aber musste er sich erst einmal irgendwelche Fragen gefallen lassen: Ob der Maurer gestern am Ende doch noch gekommen ist, ob der Miststreuer repariert werden konnte, und wie geht es überhaupt der Tante, die neulich überraschend ins Krankenhaus gebracht werden musste? So ging es eine kurze Weile hin und her, und manchmal war die Sache, um die der Nachbar gekommen war, dann doch nicht so eilig. Oder einer erzählte ungefragt, wie Hinni oder August oder Johann gestern mit ihrem neuen Trecker einem Grabenrand zu nahe gekommen und abgerutscht waren und erst durch das Vorspannen von zwei Pferden wieder herausgezogen werden konnten. Das war für alle eine Erinnerung an den Ausspruch einer der Mütter, und man grinste gemeinsam ein bisschen spöttisch in sich rein. Die hatte nämlich, als unser Vater statt mit Pferden gleich mit einem Trecker zu wirtschaften begonnen hatten, gemeint: »Dat geiht bi uns nich« – Das geht bei uns nicht. Den begehrlichen Blick ihres Sohnes hatte sie betont übersehen.
Über das In-den-Graben-Rutschen amüsierten sich alle gerne – aber auch nicht zu sehr, denn es passierte natürlich jedem mal.
Erst wenn das Frühstück dann beendet war und alle aufstanden, stand auch der Nachbar auf. Während sich die beiden Männer zum Gang nach draußen im Windfang die Stiefel anzogen – auch der Besucher hatte seine Stiefel gleich ausgezogen und war auf Strümpfen eingetreten –, wurde endlich beredet, was zu bereden war.
»Du, wat ick säggn wull …« Was ich sagen wollte …
Mich beeindruckte immer wieder dieses ausführliche Drumherum-Reden. Anfangs machte es mich ganz ungeduldig – bis ich begriff, dass dieses Sprechen zur Nachbarschaft und zur Gegenseitigkeit dazugehörte, dass es die hiesige Höflichkeit war.
Oft ging es darum, dass sich einer ein Gerät ausleihen wollte, oder er wollte ein von uns entliehenes wieder abholen. Obwohl er es auf seinem Gang über den Hof schon hatte stehen sehen, würde er natürlich immer erst ins Haus kommen und Bescheid sagen, bevor er es mitnahm. Wichtig war, dass man es schon gesäubert hatte. Denn wer ein geliehenes Gerät verdreckt oder sogar beschädigt zurückgab, dem hing das ewig an. »So iss hei«, hieß das dann, so ist er eben.
Man nahm allerdings auch das irgendwie hin und es wurde in jedem Fall weiterhin Nachbarschaft gehalten, sogar dann, wenn es sich um weit Schlimmeres als ein schmutziges Gerät handelte. Betrug im Kartenspiel oder kleine Diebereien beim Kleinvieh – sogar Ehebruch. Es geschah wohl, dass einer ›kein guter Nachbar‹ genannt wurde. Manchmal wurden Fehden daraus, die sich über mehrere Generationen erstreckten, aber Nachbar war man trotzdem, lebenslang. Beim Säubern der Gräben und beim Kuhkalben – hiesige Haupt- und Staatsakte – half man einander ohne Diskussion.
Nicht selten musste einer unserer Nachbarn auch bei uns die Reinigung des gemeinsamen Grenzgrabens anmahnen. Wie genau man es hier damit nahm, daran gewöhnte sich unser Vater erst im Laufe der Jahre. »Da verstehen die hier im Moor keinen Spaß!«, hat er manchmal ärgerlich, aber doch auch respektvoll gebrummt, wenn er wieder einmal an seinen Anteil des Grabensäuberns erinnert werden musste. Damals wurden die Gräben noch in schwerer Handarbeit mit Spaten und Haken gesäubert – eine nasse und knochenbrechende Herbstarbeit. Später wurde dafür gemeinsam ein kleiner Bagger aus dem Nachbardorf bestellt.
So oder so, die Gelegenheit für einen Klönschnack – am besten draußen und ohne das kritische Zuhören der Frungslüe, der Frauen – ergriff man gerne.
Die Unterbrechung der Arbeit gehörte zur Arbeit dazu. Denn die Arbeit selbst war einem sicher, sie lief nicht weg. Sie strukturierte nicht nur den Tag und das ganze Leben. Sie war Bedingung des Daseins. Sie steckte einem ein Leben lang in den Knochen. Umso kräftiger und ausführlicher wurde gefeiert, jedenfalls bei den Männern, selbst wenn es nur um eine etwas lang geratene Unterbrechung des Arbeitstags durch den Nachbarn ging. Und auch die Anekdoten, die auf solche Weise zustande kamen, lohnten wiederum ein längeres Stehen- oder Sitzenbleiben. Oft schlossen sie mit einem: »Wat sünd wi duhn wesst!« – Was sind wir blau gewesen! In jedem Fall war es gut, einmal nicht gleich wieder aufstehen, in die nassen Holzschuhe oder Stiefel schlüpfen und weiterlaufen zu müssen.
Es war die Zeit, als nicht schon jeder einen Trecker besaß, geschweige ein Auto. Man musste sich absprechen und einander helfen – nicht nur, wenn eine Kuh kalbte, Gräben gereinigt und Wege ausgebessert werden sollten. Und auch nicht nur bei großen Ereignissen wie Richtfesten, Hochzeiten und Beerdigungen. Auch im Kleinen