Bei den Frauen war es nicht anders. Die eine kannte alle Mittel gegen bestimmte Kinder- oder Kälberkrankheiten, die Nächste probierte gerne Rezepte beim Einkochen von Marmeladen oder süßsauren Bohnen aus, die sie dann an einige Auserwählte weitergab, und die Übernächste war schon im neu eröffneten Geschäft drei Dörfer weiter gewesen und gab Einkaufstipps. Eine andere häkelte die schönsten Kanten um Tischdecken oder glänzte durch Lochstickerei.
Wenn Schwein oder Rind geschlachtet wurde, halfen die Nachbarinnen beim Säubern der Därme und beim Wurstmachen, beim Schneiden und Durchdrehen des Fleischs, beim Kneten und Würzen des Teigs, dem Einfüllen in Därme oder Gläser, sie lösten einander ab beim Umrühren, beim Brühen der Würste im großen Kessel. Am Ende kriegten sie frische Würste mit zum Dank, hatten vielleicht ein Rezept abgestaubt und kannten außerdem den neuesten Klatsch und Tratsch.
Die Geschichten übereinander arteten selten aus, denn hier war schließlich jeder mit jedem verwandt. Und man traf sich ständig bei so vielen Gelegenheiten wieder, weshalb alle sowieso schon immer fast alles voneinander wussten.
Bis auf die wirklichen Geheimnisse.
In jedem Dorf gab es sicher diese Männer und Frauen, vor denen man sich besonders in Acht nehmen musste, die mit einer Mischung aus harmlos-freundlichem Gesicht und süßer Stimme, mit ganz nebenbei gesetzten Sticheln und galligem Spott jemanden so herauslockten oder provozierten, dass er sich dann selbst verriet. Selbst die Gescheiten, vielleicht sogar gerade sie, wurden von solchen Leuten, wie man hier sagte, ›in die Tasche gesteckt und wieder rausgeholt, ohne dass sie es merkten‹. So wurden Geheimnisse entlockt – die dann hinter vorgehaltenen Händen geflüstert weiterwanderten.
Am Ende blieb keiner ungeschoren.
Vielleicht ging auch deshalb die Nachbarschaftshilfe immer weiter, solange es Nachbarn gab, die Hilfe brauchten. So lange lieferte man gemeinsam das Vieh auf der Waage ab, trank dazu einen Köhm und grinste sich einen. Weil und obwohl man wusste, was man voneinander zu halten hatte. Oder man verabredete eine gemeinsame Fahrt ins Kreiskrankenhaus, in dem eine junge Nachbarin ein Kind geboren oder der Opa von nebenan eine Operation hinter sich gebracht hatte. Man gab fünf Mark Tankgeld dazu und jeder merkte sich, wer es vergaß.
Bald würde es mit all dem vorbei sein. Bald hatte fast jeder im Dorf einen eigenen Trecker und sogar ein eigenes Auto. Besser noch, es gab auch in jedem Haus einen Fernsehapparat. Da brauchte man einander gar nichts mehr zu erzählen.
ERSTES ZWISCHENSPIEL
Warum Vergil das Landleben über den grünen Klee lobte und Johann Heinrich Voß ihm glaubte. Wie die Antike den Boden unter den Füßen verlor.
MANCHMAL TREFFE ICH KRISCHAN, EINEN ALTEN FREUND. Wir stammen nicht aus demselben Ort, aber aus demselben Schulbus. Der Bus sammelte allmorgendlich die Kinder aus den kleinen, weit abgelegenen Dörfern und brachte sie zur Mittelpunktschule, einige von uns noch zehn Kilometer weiter zum Gymnasium. Das bedeutete jeden Morgen eine Stunde Fahrt über die Dörfer, durch flaches Moor, über sandige Geestrücken, ein Gekurve auf engen, gepflasterten Landstraßen, vorbei an den Höfen, auf denen morgens gerade noch gemolken wurde, dann auf Asphalt an Einfamilienhäusern entlang, an Möbel- und Schuhgeschäften, einem Kieswerk, vorbei an großen Geschäften mit Höfen voller Landmaschinen und Baumaterial. Wenn der Bus uns am Mittag zurückbrachte und in jedem Dorf ein paar Kinder aussteigen ließ, war es leer auf den Straßen, die Geschäfte geschlossen zur Mittagsruhe. Auf den Bauernhöfen hob höchstens mal ein Hund den Kopf, wenn die Kinder vorbei- und nach Hause gingen.
Krischan und ich haben uns vorgenommen, uns regelmäßig zu treffen und über Bäuerlichkeit und Landwirtschaft zu sprechen. Die wachsende Kritik an der modernen Agrarwirtschaft hat uns immer mehr aufgebracht – zumal ja kaum einer kannte, worüber er sprach, und nichts wusste über landwirtschaftliches Leben und Arbeiten, über Ackerbau und Viehwirtschaft.
Anders als wir, wie wir meinten.
Aber was wussten wir wirklich über unseren damaligen, kindlichen Alltag hinaus? Wir kannten natürlich unsere eigenen Familienbilder und -erzählungen vom Bauernleben vor unserer Zeit. Daneben gab es jedoch all die Prägungen unserer Kultur, die durch Jahrhunderte agrarischer Lebensweise entstanden waren, und das Bild vom Bauern und vom Land, das wir nicht kannten, weil es von den Bürgern stammte – und weit vor ihnen von Adel und Klerus, aus Dichtung und Kunst.
Wir verabreden Lektüren, besuchen Museen, gehen in Galerien und ethnologische Sammlungen. Wir suchen nach Spuren des Agrarischen in unserer Kultur, forschen nach Elementen des Bruchs zwischen dem Städtischen und dem Ländlichen, zwischen Damals und Heute.
Wir fragen uns, um welches »Damals« es eigentlich geht.
Wann ist für Stadtbewohner Landwirtschaft noch akzeptabel gewesen?
Seit wann wurden ›Land‹ und ›Natur‹ derart romantisiert, dass die auf den Feldern und in den Ställen arbeitenden Menschen nicht mehr in den Blick kamen?
Wir wollen uns auch befassen mit dem Lob des Landlebens – und mit der gegenwärtigen Hassfigur des subventionsgestützten Landwirts, den Grundwasser-, Pflanzen-, Boden-, Menschen- und Tiervergifter. Und dabei bedenken, dass die heutige Landwirtschaft die billigsten und sichersten Lebensmittel produziert, die es je gegeben hat.
Wo fängt man an, wenn man über die Kultur schaffende Wirkung des Ackerbaus etwas erfahren will? Was sollten wir wissen über den ägyptischen und sumerischen Landbau?
»Vielleicht genügt es, festzustellen«, sagt Krischan, der schon in der Schule in Geschichte geglänzt hat, »dass die Erfindung der Schrift zurückgeht auf die Notwendigkeit, den bäuerlichen Mehrertrag aufzuzeichnen und die Steuern zu berechnen.« Es war eine von mehreren Schriften, die Keilschrift, die in Uruk bzw. Babylon, im Süden des heutigen Irak, entwickelt wurde. Die Getreideüberschüsse schufen die Grundlage für unsere Schriftkultur – und der Überschuss des Landes die Grundlage für die Entstehung der Städte.
Das Lob des Bauernlebens und die Verherrlichung der Natur kamen von den Herren aus der Stadt, die sich aufs Land begaben, um von der Arbeit auszuruhen, und die – anders als die Bauern – lesen und schreiben konnten. Die Arbeit auf dem Feld und mit den Tieren wurde nicht von den Bauern beschrieben – und erst recht nicht von ihnen gelobt.
Wir nehmen uns den römischen Schriftsteller Vergil1 vor, Autor der berühmten »Georgica«, »Vom Landbau«. Er schrieb das »Lied vom Landbau« ungefähr dreißig Jahre vor unserer Zeitrechnung, ein Hohelied auf die Mühe und den Segen bäuerlicher Arbeit und auf den in der Natur arbeitenden Menschen. »Landarbeit will ich besingen …, den Fleiß, der uns heitre Saaten beschert …, die Zucht von Großvieh, die Pflege von Kleinvieh; schließlich die Kenntnisse noch, die man braucht zur Betreuung der sparsam waltenden Bienen.« Die »Landmänner« werden beschrieben als »rüstige Menschen, zufrieden mit wenigem, zäh bei der Arbeit, Ehrfurcht vor den Göttern und Achtung vor Alten«. Schwere Arbeit als göttlicher Wille. »Vater Jupiter wollte den Feldbau schwierig gestalten, bewusst: Er ließ als Erster die Schollen aufbrechen, wollte durch Nöte und Sorgen den Menschengeist schärfen, duldete nicht, dass sein Reich in leidiger Trägheit erstarrte.«
Feldbau als Schärfung des Geistes, Maßnahme gegen Faulheit – sollte dies eine Kritik sein an denen, die andere für sich arbeiten ließen?
Aber haben die Herrschaften und auch der Dichter selbst nicht immer andere für sich arbeiten lassen, jedenfalls was die Feldarbeit anging? Die wurde nämlich von Sklaven gemacht – und sie kommen im Lob des Landbaus nicht vor.
Krischan stimmt mir zu. Vergil habe von der Landarbeit geschrieben, als ob sie von freien Bauern gemacht würde. Aber das sei natürlich nicht der Fall gewesen. Im Gegenteil, es hatte im Kernland der Römer zu Vergils Zeiten fast nur noch große Landgüter gegeben, auf denen Sklaven eingesetzt wurden, also ausländische Kriegsgefangene, Sträflinge