Zurück in der Stadt, erzähle ich einigen Freunden von den Wölfen.
Und ich stelle fest, dass der Wolf heutzutage einen deutlich besseren Ruf hat als die Bauern oder ihre Rinder. Mir bleibt buchstäblich die Sprache weg über das, was ich da zu hören bekomme, und über den Gefühlsaufwand, mit dem ein Freund nach dem anderen die Wiederkehr der Wölfe verteidigt. In meiner Verwirrung und in meinem Erstaunen fällt mir kein einziges Gegenargument ein.
Wie viele Angriffe auf Schafe und Rinder im Jahr es denn statistisch gesehen gebe?
Wie viele Rinder existierten und wie viele Wölfe?
Es würde doch gewiss eine Entschädigung gezahlt – was also sei das Problem?
Die Wölfe seien ja nicht künstlich angesiedelt worden, sie seien auf eigenen Pfoten wieder eingewandert. Darüber sollten wir uns freuen. Die Natur sei in den letzten hundert oder zweihundert Jahren derart ausgebeutet und niedergemacht worden, da wäre die Rückgabe von etwas Lebensraum an die paar Wölfe doch nur recht und billig.
Der Wolf, so heißt es, greife keine Menschen an, das Märchen vom bösen Wolf sei nur das, ein Märchen, das uns in den Köpfen herumspuke. Da tue Aufklärung not!
Ein anderer sagt, dass auch Hunde für soundso viele durchaus auch tödliche Übergriffe auf Vieh und Mensch pro Jahr verantwortlich seien. Das aber werde heruntergespielt.
Als ich müde einwerfe, dass so ein Hund allerdings sofort eingeschläfert würde, zuckt er nur mit den Achseln.
Später frage ich eine Wolfs-Freundin, ob sie denn damit rechne, je in ihrem Leben einen frei lebenden Wolf zu Gesicht zu bekommen. Aber nein, das werde sie wohl nicht. Denn Wölfe seien scheu, hätten Angst vor Menschen.
Was also hat sie davon, dass es die Wölfe in freier Wildbahn gibt und nicht nur in Zoologischen Gärten oder Wolfsgehegen?
Sie hebt ihre Schultern. Darum ginge es nicht. Es ginge um Artenvielfalt, Biodiversität, ob ich das nicht verstünde.
Ich finde den Wolf im Internet als Freund – Willkommen, Wolf! – und im »Sachsenspiegel«, einem Gesetzeswerk aus dem 13. Jahrhundert, als Feind, der die Nutztiere der Menschen angreift. Dort heißt es, dass der Hirte, der nicht alles Vieh, das ihm zum Hüten vom Dorf übergeben wurde, wieder zurückbringt, den Schaden bezahlen muss. »Was ihm aber der Wolf nimmt oder die Räuber, bleibt er ungefangen und hat er sie ›unbeschrien gelassen‹ durch Herbeirufung der Nachbarn, dass er Zeugen haben möge, muss er sie bezahlen.«2 Nach dem Dreißigjährigen Krieg verbreiteten sich die Wölfe in Deutschland vor allem in jenen Gebieten in Brandenburg, die von Krieg und Hunger entvölkert waren. Sie fraßen die Schlachtfelder vom Aas leer, erzählte man sich. Vermutlich kommt daher das Grauen – und der Satz: »Wenn der Mensch geht, kommt der Wolf.«
Der heute im Namen der Biodiversität europäisch geschützte Wolf wird, wie alle Wildtiere, einem Management von hoher Intensität unterworfen. Seine Verbreitung wird verfolgt, einzelne Exemplare sind mit Sendern ausgestattet, sie werden genetischer Kontrolle unterworfen, und die durch zunehmende Kreuzungen von Wolf und Hund entstehenden Hybriden werden herausgenommen, heißt es, also wohl eingeschläfert oder erschossen.
Wild sind die wilden Tiere nur so weit der Mensch es erlaubt.
Kurz vor Weihnachten ruft mein Neffe Hannes an und erzählt, dass jetzt erst, kurz vor Jahresende, endlich eine Verordnung im Amtsblatt veröffentlicht wurde, die in einer Übergangsregelung den Umbruch von Grünland noch bis zum 31.12. erlaubt. Anders gesagt, ab dem 1.1. (2016) wird es verboten sein.
Warum? Weil das Ackern – also Pflügen – die Bodenerosion fördert. Weil Grünland der Biodiversität, den Beikräutern, Insekten und Vögeln mehr Raum gibt als Mais.
Aber es ist der Mais, den die Biogasanlagen zur Stromproduktion brauchen und der den Milchfluss der Kühe steigert und so das Einkommen der Milchbauern sichert, obwohl von ›Sicherung‹ bei extrem niedrigen Milchpreisen nicht die Rede sein kann.
Deshalb fahren im Moment überall in den Dörfern schwere Traktoren auf die eigentlich viel zu feuchten Flächen und fräsen oder pflügen, weil Bauern versuchen, auf ihren Grünflächen einen Status zu verankern, der es ihnen erlaubt, diese Flächen später zu beackern. Sie nennen es ›schwarz machen‹, also unter Umständen, falls es ihr Betrieb erfordert, dort Ackerfrüchte anzubauen. Dieses Recht hätten sie jedoch nicht mehr, wenn das Grünland am 1. Januar noch Grünland wäre. Dann dürften sie dort weder Mais anbauen noch überhaupt eine Grasneuansaat machen. Durch die Verzögerung der Veröffentlichung im Amtsblatt hat das Ministerium dafür gesorgt, dass von den regendurchtränkten Flächen in den sieben verbleibenden Kalendertagen bis Neujahr nur noch sehr wenige umgepflügt werden können. Hannes erzählt, dass in den Dörfern rundum die Traktoren unterwegs sind.
»Das ist Wahnsinn«, sagt er, »und fachlich überhaupt nicht zu rechtfertigen.« Aber in einer Woche schon wären ihnen die Hände gebunden. Deshalb müssen sie handeln, wo sie es noch können, sagt er. Sie wollen auch in Zukunft noch ackerfähige Böden haben und selbst entscheiden können, welche Frucht sie dort anbauen wollen – oder es als Grasland nutzen. Es geht um Tausende von Euro, die man sonst zahlen müsste, um die Ackerungsrechte zurückzuerwerben.
»Die vier Hektar* hinter dem Kanal sind unbefahrbar, da kommt man nicht rauf und nicht runter. Selbst die Pumpen unserer Schöpfwerke schaffen es nicht mehr. Sie können eine Überschwemmung verhindern, aber die Böden sind vollgesogen wie Schwämme. Man kann nur hoffen, dass der Regen wenigstens jetzt aufhört und dass über Weihnachten windige Tage kommen. Da könnte man es dann am 31.12. vielleicht noch einmal versuchen.«
Aber Wind ohne Regen? Im Dezember im Sietland? Da muss man schon fast an Wunder glauben.
Ich frage, ob das Ministerium das denn so genau prüfen könne.
»Schon mal von Google Earth gehört?«
Zum Schluss frage ich noch nach den Wölfen.
»Im Moment ist Ruhe. Das Vieh ist ja in den Ställen. Und da draußen sind wohl noch Rehe genug.«
9. KAPITEL
18. – 19. JAHRHUNDERT
Wie man mit Torf Fundamente baute und Häuser zum Schwimmen brachte.
MIT WALDEMAR UNTERHIELT ICH MICH DARÜBER, mit welchem Material hier früher eigentlich Fundamente gesetzt worden sind.
»Sie haben gearbeitet mit dem, was sie hatten«, sagte er. »1938 gab es bei uns laut Giebelinschrift eine Stall- und Dielenerweiterung. Für die Fundamente hat man einfach Sand genommen und eingeschlämmt, umgeben von Moor. Als wir dann zwanzig Jahre später Fundamente für die neue Scheune gegraben haben, um sie so nahe wie möglich an den Stall zu setzen, entstand im Giebel ein Riss.« Da hatte der Sand nachgegeben und ein Teil der Mauer war abgesackt. »Aber wenn du es genau wissen willst, musst du dich mit unserem alten Zimmermann unterhalten.«
Das machte ich, fuhr los Richtung Norden und bog kurz vor der Brücke über den Hadelner Kanal nach links ab, dann lange parallel zum Wasser. Alles liegt hier tiefer als der Kanal, die Weiden und auch das Haus des Zimmermanns, ein Fachwerkhaus, von ein paar jungen Birken umgeben. Im Wohnzimmer hängt ein schönes Bild dieses Hauses, den Flur schmückt eine Truhe aus dem 18. Jahrhundert. Aber alles steht hier gerade und es gibt keine Risse in den Wänden.
Hatten wir früher neu tapeziert, war spätestens nach einem Jahr irgendwo ein neuer Riss entstanden. Wenn über Eck die eine Wand gegenüber der anderen absackte, zogen sich als erstes Anzeichen dort, wo die Wände aneinanderstießen, Falten in die Tapete, bis sie riss. Und wenn im Esszimmer etwas auf den Boden fiel, rollte oder rutschte es zum tiefsten Punkt unter dem Esstisch. Wir wussten immer, wo der tiefste Punkt war. Nur bei den mit Holz belegten Böden war es anders. Die senkten sich nicht punktartig, sondern als Ganze in Richtung der gesackten Wand.
Irgendwann hatte ich gehört, dass die Häuser hier mit ihren Holzböden auf Balken gesetzt wurden, die ohne Fundamente einfach auf das Moor gelegt