Im Eissturm der Amsel. Kerstin Groeper. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Kerstin Groeper
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783941485976
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Dann würde er weitersehen.

      Pierre war immer noch ein Engagé von Manuel Lisa. Er überlegte sich, ob er in Zukunft mit der neuen Company arbeiten würde. Wenn sie ihn für den Yellowstone anheuern wollten, dann würde er es sich überlegen. Jetzt freute er sich erst einmal auf eine friedliche Passage. Manuel Lisa hatte ihn zum „Kapitän“ eines der Kielboote ernannt, eine reichlich hochtrabende Bezeichnung, und Pierre dankte es ihm mit Zuverlässigkeit und Treue. Er hatte schon auf der Herfahrt ein Boot befehligt und ohne Zwischenfälle den Missouri und Yellowstone stromaufwärts manövriert. Seine Männer legten sich in die Riemen, wenn er es verlangte, stakten das Boot mit langen Stangen vorwärts oder hissten das Segel, wenn der Wind günstig stand. Es ging flussabwärts, sodass sie gut vorankamen, obwohl sie bei jeder Biegung das Ufer wechseln mussten, um eine optimale Linie zu fahren. Die Männer gingen zu beiden Seiten des Aufbaus den schmalen Laufgang entlang und stießen das Boot mit den Stangen voran oder zogen es an Seilen vorwärts, indem sie am Ufer oder manchmal sogar im Fluss vorausgingen. Sie wurden für die harte Arbeit schlecht bezahlt: 100 Dollar im Jahr, eine Decke, zwei Hemden, ein Paar Stiefel und freies Essen. Pierre war besser gestellt, denn als Guide erhielt er fast das Dreifache.

      Drei Tage später mussten die Männer eine unerwartete Pause einlegen. Der Yellowstone floss hier zwischen gelben Sandbänken und Felsen hindurch und hatte eine ziemliche Strömung. Nach der Schneeschmelze hatte der Fluss ohnehin Hochwasser, und immer wieder mussten die Männer mit langen Stangen verhindern, dass sich Treibholz an den Booten verkeilte. „Baum voraus!“, hieß es dann. Dieses Mal kam die Unbill der Natur in Form eines heftigen Eissturms. „Amselsturm“ wurde das Phänomen genannt, wenn es im späten Frühjahr noch einmal einen Kälteeinbruch gab. Schnee und Hagel prasselten auf die Männer nieder, sodass das Rudern oder Segeln der Kielboote nicht mehr möglich war. Innerhalb kürzester Zeit waren die Planken völlig vereist, sodass die Anführer Befehl gaben, den Schutz des Ufers zu suchen. Das war nicht leicht, denn die Strömung verhinderte, dass die Männer an Land gehen konnten. „Wo denn?“, schrie Pierre in den Sturm. Seine Finger brannten von der Kälte, und er hatte Angst, dass seine Hände am Ruder festfroren. „Merde!“, gebrauchte er sein Lieblingswort. Das Ufer trieb an ihm vorbei, und er konnte keinen Platz zum Landen entdecken. Arnel stand an seiner Seite und suchte ebenfalls das Ufer nach einer Stelle zum Anlegen ab. Er hatte sich ein Tuch um das Gesicht gebunden, sodass nur noch seine braunen Augen hervorschauten. Er schien nicht aufgeregt zu sein, sondern reagierte ruhig auf die Gefahr des Sturms. „Wir müssen an Land!“, sagte er ernst.

      „Versuche ich doch, du Idiot!“, schrie Pierre in den Sturm.

      Den anderen Booten erging es ebenso. Der Eisregen klatschte den Männern ins Gesicht und durchweichte ihre Kleidung. Pierres Wangen brannten, und er wünschte sich an ein warmes Feuer. Dunkle Wolken hatten das schlechte Wetter angekündigt, aber ein Regenschauer war noch lange kein Grund, die Fahrt zu unterbrechen. Dass daraus ein Hagelsturm wurde, hatte niemand geahnt. Die Ladung war sicher untergebracht, aber die Männer waren dem Sturm schutzlos ausgeliefert. Ihre Wangen gefroren, und das Eis setzte sich an den Augenlidern und Augenbrauen fest, sodass sie fast nichts mehr sehen konnten. Sie mussten hier raus!

      Pierre übergab das Ruder an Arnel, lief rutschend an den Bug des Bootes und beobachtete erschrocken, wie eines der Boote plötzlich quer zur Strömung trieb. „Aufpassen!“, schrie er aus Leibeskräften.

      Die Männer versuchten, mit langen Stangen die kleinere Barkasse wieder in die Strömung zu bekommen, doch es war schon zu spät. Mehrere Baumstämme trieben gegen die Wand, wurden aus den Fluten gerissen und kippten mit ihrer Kraft das Boot um. Schreiend fielen die Männer in die Fluten und ruderten mit ihren Armen.

      Die Ladung rutschte ins Wasser, und die Barkasse begann sich im Kreis zu drehen. Es wurde nun für alle anderen Boote zur Gefahr. Pierre wollte den Männern zu Hilfe kommen, doch er hatte alle Hände voll zu tun, sein eigenes Boot in der Strömung zu halten. „Ausweichen!“, brüllte er, als er sah, dass sie auf das gekenterte Boot zutrieben. „Pass doch auf, Arnel!“

      Mit einer langen Stange drückte er sich von dem Wrack weg und hielt dann die Luft an, als sie an dem Boot entlangglitten. Es knirschte und knarzte, als Holz an Holz vorbeischrammte. Seine Männer zogen rechtzeitig die Ruder ein und drückten damit das andere Boot von ihrer Wand weg. Dann waren sie vorbei und kämpften erneut gegen den Hagel und die reißende Strömung. „Aufpassen, Jungs … mehr nach links halten!“

      Dann umrundeten sie eine Biegung, und Pierre entdeckte eine kleine Abzweigung, die wahrscheinlich ruhigeres Wasser führte. „Haltet darauf zu!“, brüllte er aus Leibeskräften. Er rannte nach hinten, schob Arnel zur Seite und steuerte nun selbst mit dem Ruder auf die Abzweigung zu. „Treibt das Schiff darauf zu!“, befahl er seinen Männern. „Staken! Schiebt diese Mistfähre da rüber!“

      Dann winkte er dem Boot, das kurz hinter ihm war, ebenfalls zu. „Hierher! Hierher! Hier ist eine Abzweigung!“

      Mit letzter Kraft schafften es seine Männer, das Boot in das ruhigere Wasser des Seitenarms zu staken. Schwer atmend sah Pierre sich um und registrierte, dass auch andere Boote seinem Ruf folgten. Nur das gekenterte Boot trieb weiter in der Strömung und verschwand aus seinem Sichtfeld. „Merde!“, murmelte er vor sich hin. Die Ladung war verloren! Hoffentlich hatten sich die Männer retten können!

      Er ließ das Schiff am Ufer auflaufen und beobachtete, wie zwei Männer mit Tauen an Land sprangen und das Boot an zwei Bäumen sicherten. Es war eine Notlösung, denn es würde dauern, das Boot wieder freizubekommen. Inzwischen war er völlig durchnässt, und seine Zähne klapperten vor Kälte. Sie brauchten einen Unterstand und trockene Kleidung! Zwei Männer, die sich von dem gekenterten Boot hatten retten können, stiegen aus dem Wasser. Auch sie mussten sich dringend aufwärmen.

      Erbarmungslos peitschte der Sturm auf die Männer ein, während ein Boot nach dem anderen in das seichtere Wasser fuhr und nach einem Anlegeplatz suchte. Kommandos wurden gebrüllt, nach Vermissten gesucht – und hier und da erklang der Ruf, dass ein Schiffbrüchiger gerettet worden sei. Aber wie sollte man über hundert Leute trocken bekommen? Der Laderaum war voll, und am Ufer standen keine Unterkünfte bereit. Die Bewegungen wurden bei dieser Kälte langsam und unkontrolliert.

      „Ladet die Kisten ab!“, befahl Pierre mit ruhiger Stimme. „Macht ein bisschen Platz, und dann setzt euch in den Laderaum. Zieht die nassen Sachen aus und nehmt euch Wolldecken zum Aufwärmen.“ Pierre ging davon aus, dass die Mannschaften der anderen Boote es genauso machen würden. „Danke, Kapitän!“, murmelte einer der Männer. Auch er schlotterte vor Kälte. „Was Heißes zum Trinken wäre jetzt gut.“

      „Wir warten, bis sich der Sturm gelegt hat. Dann machen wir Feuer!“, versprach Pierre. „Erst einmal müssen wir aus unseren nassen Klamotten raus.“

      „Aye, Sir!“

      Eilig luden die Männer ein paar Kisten aus und setzten sie auf den sandigen Strand. So entstand zumindest für die Besatzung genug Unterschlupf vor der Nässe. Kurz darauf saßen die Männer frierend im Laderaum und wickelten sich in die warmen Decken. Draußen tobte der Wind, und der Hagel verwandelte sich langsam in einen Regenschauer. Dicke Tropfen prasselten auf das Holz der Planken und auf das Dach des Laderaums. „Hört bald auf!“, brummte einer der Männer.

      „Hoffentlich! Ich möchte wissen, welcher Schaden entstanden ist. Hoffentlich sind nicht noch mehr Boote gekentert.“ Pierre stieß ein Seufzen aus.

      „Ich hoffe, dass keine Blackfeet in der Nähe sind. Wir liegen hier auf der Seite wie lahme Enten. Da wären wir leichte Beute!“ Es war Colter, der sofort ihre Verwundbarkeit festgestellt hatte.

      Pierres Lippen wurden zu einem Strich. Da hatte der Mann nur allzu recht! „Rede das Unheil nicht herbei!“, schimpfte er leise.

      Es wurde still, denn alle waren abergläubisch, und so bedachten sie Colter, der die unbedachte Äußerung gemacht hatte, mit bösen Blicken. „Ich will nur überleben!“, verteidigte sich der.

      Am Abend ließ der Sturm endlich nach, und die Männer verließen die Boote und bauten ein provisorisches Lager auf. Sie fällten einige Stämme und bauten aus Leinenplanen einfache Lodges. Der Boden war nass, und so legten sie