Der Dialog der Geistigbehindertenpädagogik mit den Nachbarwissenschaften ist in mehrfacher Weise wirkungsvoll. Zum einen entwickeln sich gemeinsame interdisziplinäre Handlungsfelder wie z. B. in der Frühförderung oder auch im Bereich sozialer Integration von Arbeit und Freizeit; Handlungsfelder, in denen MitarbeiterInnen aus unterschiedlichen Bereichen miteinander arbeiten, z. B. Mediziner, Psychologen, Heilpädagogen, Therapeuten und So zialarbeiter.
Zum anderen bewirkt der interdisziplinäre Dialog auch den notwendigen Wissenstransfer, der heutzutage notwendig ist, um Menschen mit geistiger Behinderung ein Leben lang adäquat zu begleiten. Das heißt, die Geistigbehindertenpädagogik greift bei ihrer Konzept- und Theoriebildung auf Forschungsergebnisse und Erkenntnisse anderer Wissenschaftsbereiche, vornehmlich aus der Medizin, den Neurowissenschaften, der Psychologie, Soziologie und Philosophie zurück und verbindet sie mit pädagogischem Denken. Der interdisziplinäre Dialog mit der Geistigbehindertenpädagogik ist aber auch für die Bezugswissenschaften von Bedeutung, wenn sie Fragen von Behinderung klären wollen.
1.Wie unterscheiden sich die Begriffe Heil-, Sonder-, Förder- Behinderten- und Rehabilitationspädagogik voneinander?
2.Was zählt zu den Aufgaben der Heilpädagogik?
3.Welche Stellung nimmt die Geistigbehindertenpädagogik innerhalb der Heilpädagogik ein?
4.Wie würden Sie die Situation von Menschen mit geistiger Behinderung in unserer Gesellschaft beurteilen? Geben Sie Ihre Antwort auch vor dem Hintergrund Ihrer eigenen Erfahrungen und Einstellungen zu diesem Thema.
5.Fassen Sie noch einmal zusammen, von wo aus das geistigbehindertenpädagogische Denken seinen Ursprung nimmt, welche Aufgabenfelder das Fach umschließt und mit welchen Wissenschaften es im Dialog steht.
2Historische Wurzeln der Geistigbehindertenpädagogik
Um die Zuwendung zu Menschen mit geistiger Behinderung, die Konzepte und Methoden ihrer Erziehung in ihrem Gewordensein besser verstehen zu können, ist es sinnvoll, auf das Leben und die Betreuung dieser Menschen vor unserer Zeit zurückzuschauen. Frühere Einstellungen und Sichtweisen, die Art ihrer sozialen Akzeptanz bleiben bis heute prägend für das Verständnis von geistiger Behinderung. Die Auffassung von Behinderung bestimmt letztlich die Maßnahmen, d.h. die Weise der Behandlung, der Betreuung oder der Erziehung. Erfahrungen früherer Generationen im Umgang mit behinderten Menschen zeigen also heute noch ihre Wirkung und sind für die Standortbestimmung der aktuellen Geistigbehindertenpädagogik von informativem Wert.
Historische Quellen über Menschen mit geistiger Behinderung lassen sich bis in die Antike zurückverfolgen. Die Art der Behandlung – ob diese Menschen nun Pflege und Versorgung erhielten oder im Gegenteil umgebracht wurden – war im Verlauf der Jahrhunderte bestimmt vom jeweiligen menschenachtenden oder -verachtenden Zeitgeist, von sozioökonomischen und gesellschaftspolitischen Bedingungen, von staatlichen Machtstrukturen, von Staats- und Gesellschaftsideologien, die wiederum stark von theologischen Ethiken geprägt waren. Die Motive der Hinwendung reichten von gottesähnlicher Verehrung der Behinderten im Altertum, über exorzistische Vernichtung im mythischen Mittelalter, über pseudo-karitative Mildtätigkeit bis hin zu systematischer Pflege aus christlicher Nächstenliebe in den aufkeimenden Anstalten des 19. Jahrhunderts. Die fürsorgerische und pädagogische Hinwendung zu Menschen mit geistiger Behinderung hat sich im Verlauf der Geschichte stark verändert:
„Die Erziehung von Kindern mit geistiger Behinderung ist – historisch gesehen – ein junges Gebiet. Es ist bewundernswert, welche Höhe sie im 19. Jahrhundert in einigen Anstalten erreichte. Es ruft Entsetzen hervor, daß im 20. Jahrhundert eine sturzflutartige Abwärtsbewegung begann, die mit der Ermordung von etwa 80.000 geistig behinderten und psychisch kranken Menschen während des Krieges endete“ (Möckel et al. 1997, 10).
Der nachfolgende Rückblick beleuchtet schlaglichtartig wesentliche Aspekte dieses Wandlungsprozesses und zeigt begünstigende wie hemmende Bedingungen der Entwicklung einer speziellen Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung auf.
Eine systematisch aufgearbeitete „Geschichte der Erziehung von Menschen mit geistiger Behinderung“ gibt es nicht. Zwar hatte Max Krimsee (1877–1946), Lehrer und späterer Leiter der Anstaltsschule am Kalmenhof in Idstein/Taunus, in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts mit der historischen Aufarbeitung begonnen, doch seine Arbeiten sind Stückwerk geblieben. Er hinterließ eine Sammlung von heilpädagogischen Originaltexten aus dem 17. und 18. Jahrhundert, die nach dem Zweiten Weltkrieg, bezogen auf die Gruppe der Menschen mit geistiger Behinderung, analysiert wurden. Die Realisation des Vorhabens erwies sich aber als schwierig, weil verschiedene Termini zur Kennzeichnung der geistig Schwachen verwendet worden sind, „so daß es nicht möglich ist, stets genau auszumachen, ob auch wirklich dieser Personenkreis gemeint ist, der heute als geistig behindert bezeichnet wird“ (Speck 1979, 57).
Seit den 1970er Jahren erschien eine Reihe von Monographien. Sie thematisieren entweder die Geschichte einzelner Anstalten, wie z.B. die des Wittekindshofs bei Bad Oeynhausen (Klevingshaus 1970) oder die Geschichte der Erziehungs- und Pflegeanstalt für Geistesschwache Mosbach/Schwarzacher Hof (Scheuing 1997) oder sie widmen sich den Werken einzelner früher Heilpädagogen (z.B. Selbmann 1982 zu dem Werk von Jan Daniel Georgens). Beispiele für die Beschäftigung mit einzelnen Epochen sind u.a. die Untersuchung der Zeit vor der Aufklärung (Bachmann 1985) oder die „Erforschung und Therapie der Oligrophrenie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“ (Meyer 1973).
Als Untersuchungen im Sinne historischer Überblicke sind zu nennen: Meyer (1973), Speck (1979, 1999), Höhn (1982), Schröder (1983), Möckel (1984, 1988, 2007), Mühl (1991) oder Merkens (1988), Hahn 2008 u. v. a. m. Beachtenswert und zum vertiefenden Selbststudium zu empfehlen sind die jüngst erschienenen beiden Quellenbände des Herausgeberteams Möckel, Adam und Adam (1997 und 1999), Lindmeier, Lindmeier (2002). Hierin sind die wichtigsten heilpädagogischen Quellen (Texte) aus der Zeit der Anstaltsgründungen im 19. Jahrhundert bis heute zusammengetragen und in Bezug zueinander gestellt. Schriften der Klassiker wie Itard, Séguin, Guggenbühl, Rösch, Saegert, Georgens und Deinhardt, aber auch von Gegnern der Erziehung geistig behinderter Kinder während der Zeit des Nationalsozialismus wie z.B. Binding und Hoche sind hier zu finden.
Zusammenfassung
Zusammenfassend ist zu sagen, dass die Erziehung von Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung auf Einzelinitiativen von Philanthropen, i. d. R. an pädagogischen Fragen interessierten Ärzten und Theologen, später auch Pädagogen zurückgeht. Sie haben durch ihr soziales Engagement gezeigt, dass sich der Zustand so genannter ‚schwachsinniger‘ Kinder durch erzieherische Maßnahmen verbesserte. Die staatliche Unterstützung in finanzieller wie juristischer Hinsicht, d. h. das Recht auf Versorgung und Erziehung sowie die Errichtung von Anstalten und Schulen, war erst ein zweiter und schwer durchsetzbarer Schritt, der bezogen auf den Personenkreis der Menschen mit geistiger Behinderung erst im 19. Jahrhundert begann. Über die Zeit davor gibt es keine systematische Aufarbeitung, dennoch lassen sich im Sinne historischer Orientierungsdaten einige Aussagen zum Leben der Menschen mit geistiger Behinderung machen. „Die Geschichte dieser Menschen war über Jahrhunderte hinweg die Geschichte ihrer Verfolgung und Mißachtung“ (Speck 1997, 13).
2.1Das Leben von Menschen mit geistiger Behinderung von den Anfängen bis zum 19. Jahrhundert
Es ist anzunehmen, dass in den „Anfängen der Menschheitsgeschichte wenig Rücksicht auf gebrechliche, kranke, auch geschädigte Gruppen- oder Stammesmitglieder genommen werden konnte, wollte man das Überleben sichern“ (Mühl 1991, 9). Erst mit dem Sesshaftwerden in der jüngeren Stein- und Bronzezeit wurde eine grundsätzliche Betreuung geschädigter Mitmenschen möglich. Ob diese aber auch wirklich erfolgte, „hing auch von den magischen, mythologischen und normativen Vorstellungen der jeweiligen Gruppe oder Gesellschaft ab“ (9). Unter den Menschen mit Behinderungen nahmen die mit einer geistigen Behinderung, die sog. Schwachsinnigen oder Idioten, eine Sonderstellung ein, weil angenommen