Während blinde oder leicht körperlich beeinträchtigte Menschen wegen ihrer Intelligenz bzw. ihres Vermögens zu sprechen in alten Hochkulturen (Sumerer, Babylonier oder Ägypter) Achtung erfuhren, wurden geistig behinderte in der Regel verstoßen oder getötet. Bei den Römern und Griechen war die Sitte des Aussetzens und des Kindesmordes verbreitet, ebenso bei den Germanen. Einzelne Spuren dieser Praxis lassen sich verfolgen bzw. belegen und sind z.B. bei Merkens (1988) nachzulesen.
Irrationale Abwehr
Mythologische Erklärungen für die Ursache des Schwachsinns hielten sich bis über das Mittelalter hinaus. „Man glaubte an die Einwirkung von Dämonen, an den Kindertausch durch den Satan (,Wechselbalg‘), auch an die ,Strafe Gottes‘ für Sünden der Vorfahren“ (Speck 1979, 57). Man griff zu Beschwörung und Zauberei; Maßnahmen, die aber keineswegs dem geschädigten Menschen oder gar seiner Integration in die Gemeinschaft dienten, sondern ausschließlich dem Schutz der Mitmenschen vor dem als Bedrohung erlebten „Schwachsinnigen“. Die Praktiken waren demzufolge mystisch-religiöse Abwehrmechanismen. Separation, Ausgrenzung und Vernichtung waren soziale Antworten auf das Unbegreifliche des Andersseins. „Es gab keine Anerkennung ihres Lebensrechtes und ihrer Menschenwürde“ (Speck 1999, 11).
„Schwachsinnige“ Menschen behielten auch in der Neuzeit ihre soziale Sonderstellung und erfuhren unterschiedliche Wertschätzung. Sie wurden auf Jahrmärkten zur Schau gestellt, als Narr zum Spielzeug und Gespött, als Dämon gefürchtet, aber auch als schwaches Wesen unter den besonderen Schutz Gottes gestellt. In den Alpenländern wurden diese Menschen zeitweise als Heilige verehrt. Meist aber fristeten sie ihr Leben elend am Rande der Gesellschaft, angewiesen auf Almosen und abgeschoben in Klöster, Armenhäuser, Hospitäler, Irrenanstalten, Zucht- und Tollhäuser, oder blieben in den Familien. Sie waren dem Gespött und der Willkür anderer ausgesetzt. Das Motiv ihrer Unterbringung in öffentlichen Häusern war nicht medizinischer oder pädagogischer Natur. Nicht die Verbesserung ihres Zustandes war Ziel, sondern allein die Abschirmung, der Schutz der Öffentlichkeit vor dem Anblick dieser Menschen.
„Mit der Auflösung der Klöster während der Reformationszeit ging ihre Umwandlung in Waisenhäuser, Asyle, Zucht- und Aufbewahrungsanstalten einher, in denen Behinderte, Arme, Kranke und Kriminelle gemeinsam untergebracht wurden. Die Bevölkerung sollte vor dem Anblick dieser Personen verschont werden“, damit ihre Bewohner „der Umwelt nicht zu Ekel und Abscheu gereichten“ (Merkens 1988, 44).
In welch heterogen zusammengewürfelten Gruppen früher geistig behinderte Menschen untergebracht waren, wird in einer 1588 erschienenen Schrift über das in eine psychiatrische Einrichtung umgewandelte Kloster Haina beschrieben:
„… das das grosse gewaltige Closter Heina durch auß mit Armen leuten als Blinden, Lamen, Stummen, Tauben, Wanwitzigen, Monsichtigen, Sinnverrückten, Besessenen, Mißgestalten, Aussetzigen und dergleichen bresthafftiger Armer menschen heuffig und völlig besetzet wardt“ (Letzner 1588, 7. Kap., nach Schröder 1983, 17).
Die Lebensbedingungen in diesen Aufbewahrungsanstalten waren aus unserer heutigen Perspektive unmenschlich. So berichtete Chiarugi 1795 in seiner Abhandlung über den Wahnsinn Folgendes:
„Es muß gewiß für jeden Menschenfreund einer der schauderhaftesten Anblicke sein, wenn man in sehr vielen Irrenhäusern die unglücklichen Opfer dieser schrecklichen Krankheit in finstern, feuchten Löchern, wo die frische Luft nie hineingebracht werden kann, auf unreinem, selten gewechseltem Stroh, mitten in ihrem eigenen Kote, und mit Ketten gefesselt, oft ganz nackend legen sieht. In solchen Wohnungen des Schreckens könnte der Vernünftigste wohl eher wahnsinnig, als ein Wahnsinniger wieder zur Vernunft gebracht werden“ (nach Schröder 1983, 27).
Die Menschen, die in diesen Tollhäusern arbeiteten, charakterisierte Reil 1803 folgendermaßen:
„Die Zuchtknechte, Stockmeister und Diebeswärter sind meistens rohe Menschen, bei denen Barbarey an der Tagesordnung steht, und welche obendrein diese Unglücklichen als eine lästige Bürde ihrer Amtspflichten betrachten, die sie, um sie auf die kürzeste Art zu besorgen, in feuchte Gewölbe, Gefängnisse und in die Kellergeschosse ihrer Anstalten einsperren. Das nächtliche Gebrüll der Rasenden und das Geklirre der Ketten hallt Tag und Nacht in den langen Gassen wider, in welchen Käfig an Käfig stößt, und bringt jeden neuen Ankömmling bald um das Bischen Verstand, das ihm etwan noch übrig ist“ (nach Schröder 1983, 28).
Von gesellschaftlichem Zusammenleben und erzieherischer Fürsorge ausgeschlossen, konnten geistig behinderte Menschen keine Kommunikations- und Verhaltensweisen entwickeln, d.h. sie entsprachen mit ihrem Verhalten dem Bild, das sich die Umgebung von ihnen machte. Menschen mit geistigen und schwereren körperlichen Gebrechen befanden sich demnach in einem Teufelskreis, der nur schwer zu durchbrechen war.
Ambivalenter christlicher Einfluss
Auch das Christentum konnte oder wollte dieser Praxis anfänglich nicht wirkungsvoll begegnen, weil es zwar teilweise der Dämonisierung entgegenzuwirken versuchte, aber mit der Einführung der Schuldfrage nichts zur Anerkennung behinderter Menschen beitrug. Die Verquickung von Schuld- und Ursachenfrage sowie die Interpretation von Behinderung als Strafe Gottes für die Eltern oder die Gesellschaft verstärkten noch die Praxis der Isolierung.
Die historischen Quellen lassen erkennen, dass schon früh ein Unterschied im Umgang mit behinderten Menschen gemacht wurde, also eine gewisse Hierarchie der Behinderungsformen bestand. Obwohl auch sinnesgeschädigte, blinde oder gehörlose Menschen sozial kaum integriert waren, genossen sie aufgrund ihrer kompensatorischen Fähigkeiten höhere öffentliche Anerkennung als schwachsinnige Menschen. Schon früh konnte die Nützlichkeit und Brauchbarkeit Sinnesgeschädigter von der Taubstummenpädagogik des 18. Jahrhunderts unter Beweis gestellt werden. Menschen mit geistiger Behinderung „blieben von den Erfolgsmeldungen ausgeschlossen“ (Merkens 1988, 55), zumal sich die frühe Heilpädagogik ihrer nicht annahm. Sinnesgeschädigte hingegen galten als bildungsfähig,ihnen sprach man ihr Menschsein nicht ab, anders als den sog. Schwachsinnigen.
2.2Beginn der Geistigbehindertenpädagogik – Anstaltsgründungen im 19. Jahrhundert
Menschen mit geistiger Behinderung wurde erst im 19. Jahrhundert pädagogische Aufmerksamkeit geschenkt. Begünstigend wirkten die zunehmende Industrialisierung mit ihren gesellschaftlichen Veränderungen sowie vor allem das Gedankengut der Aufklärung, „in deren Gefolge man sich für die Befreiung bzw. Behandlung von Sklaven, Gefangenen, Kranken, Blinden und Tauben engagierte“ (Mühl 1991, 10). Das Recht auf Bildung sollte nicht länger nur den privilegierten Bevölkerungsschichten vorbehalten bleiben. Alle Kinder sollten durch staatliche Erziehung zu Sittlichkeit und bürgerlicher Nützlichkeit gebracht werden; eine Forderung, die man auch für geschädigte Kinder erhob, weil die ersten Erziehungsversuche tauber und blinder Kinder, Mitte des 18. Jahrhunderts, deren Bildbarkeit und damit ihre gesellschaftliche Nützlichkeit belegten. Ihre menschliche Würde sollte ihnen darum nicht länger abgesprochen werden. „Vom Almosenempfänger zum Steuerzahler“ war der Leitgedanke der frühen Heilpädagogik, mit dem man glaubte, das Menschen- und Lebensrecht für Menschen mit Behinderung durchsetzen und wahren zu können.
Diesen Leitgedanken auf Menschen mit geistiger Behinderung zu übertragen und deren gesellschaftliche Nützlichkeit unter Beweis zu stellen, erwies sich als schwierig und brauchte Zeit. Obwohl von der Taubstummenpädagogik beeinflusst, war die Fürsorge für „Schwachsinnige“ oder frühe Geistigbehindertenpädagogik gezwungen, eigenständige Wege zu entwickeln. Die so genannten schwachsinnigen Menschen mussten erst aus ihren gefängnisähnlichen Unterbringungen herausgeholt und menschenwürdiger Pflege und Versorgung zugeführt werden. Dies erfolgte in Anstalten, die meist auf private Initiative hin entstanden.
Die Errichtung von staatlich unterstützten Schulen als Orten der Erziehung war erst der zweite Schritt. Das 19. Jahrhundert, das wegen seines reformerischen Zeitgeistes auch das „pädagogische Zeitalter“ genannt wird, begünstigte diese Entwicklung.
Die Ideen der Aufklärung führten zu einem stärkeren Interesse an