Vor dem Hintergrund des spezifischen Erziehungs- und Unterstützungsbedarfes hat sich die Geistigbehindertenpädagogik heute zu einem komplexen System pädagogischer, therapeutischer und rehabilitativer Maßnahmen entwickelt, die in unterschiedlichen Institutionen und von verschiedenen Fachkräften durchgeführt werden. Trotz Breite und Unterschieden in den Zugangsweisen verfolgen alle Institutionen und Professionen ein gemeinsames Ziel, nämlich
die Verringerung von Beeinträchtigungen und Benachteiligungen,
die größtmögliche Selbstbestimmung und
die Integration von Menschen mit geistiger Behinderung in die Gesellschaft.
Unterstützt wird dieser Prozess von der wissenschaftlichen Geistigbehindertenpädagogik, die Erziehungstheorien und -methoden entwickelt und durch die Erforschung der Lebenssituation von Menschen mit geistiger Behinderung diese verbessernd zu beeinflussen versucht. Der Geistigbehindertenpädagogik geht es, in der Praxis wie in der Theorie, um die Verwirklichung der individuellen Erziehungs- und Lebensbedürfnisse von Menschen mit Behinderung in einem gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang. Damit verfolgt sie immer auch einen ethischen und gesellschaftspolitischen Auftrag, wie beispielsweise die Durchsetzung und Realisation des Lebens- und Bildungsrechtes der ihr anvertrauten Menschen.
Charakteristikum der aktuellen Geistigbehindertenpädagogik ist ihr Denken und Handeln vom Menschen aus, von seinen spezifischen Bedürfnissen, individuellen Einschränkungen, aber auch von seinen Möglichkeiten aus. Darum sollen in diesem Buch die Menschen mit geistiger Behinderung – ihre Lebensräume, ihre Erziehungs- und Betreuungsbedürfnisse – im Mittelpunkt stehen. Von hier aus werden Ziele und Aufgaben der Geistigbehindertenpädagogik in verschiedenen Institutionen (z. B. Schule, Werkstatt oder Wohnheim) dargestellt. Hierbei sollen Charakteristika des geistigbehindertenpädagogischen Denkens deutlich werden; der Überblick wird aus einem pädagogischen Blickwinkel gegeben.
Den wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Seminars für Geistigbehindertenpädagogik in Köln, insbesondere Frau Ilm, Frau Foede und Frau Harwick, danke ich für ihre Unterstützung bei der Literaturrecherche, dem Ehepaar Ullmann und Herrn Gödecke für ihre Mitwirkung bei grafisch-technischen Fragen, Herrn Brederlow, Herrn T. und der Theatergruppe SinnFlut für ihre Zustimmung zum Druck ihrer Fotos. Besonders danken möchte ich Frau Wehler und Frau Landersdorfer vom Ernst Reinhardt Verlag für ihre wohlwollende Unterstützung und die Realisation dieses Buches.
Hinweise zur Benutzung dieses Lehrbuches
Das vorliegende Buch will Studienanfängern der Heil- und Sonderpädagogik, der Rehabilitationswissenschaften sowie interessierten Studierenden verwandter Studienfächer (Pädagogik, Psychologie, Gerontologie, Sozialpädagogik und Sozialarbeit) einen Einblick in die vielfältigen Aufgaben- und Handlungsfelder der Geistigbehindertenpädagogik geben. Es eignet sich für Studierende in Bachelor- und Masterstudiengängen. Nicht die vertiefte Auseinandersetzung mit dem Phänomen der geistigen Behinderung oder mit Einzelaspekten der Geistigbehindertenpädagogik ist intendiert, sondern die Vermittlung eines Überblickes über ein Fach, das sich als ein komplexes Teilgebiet der Pädagogik versteht. Der beabsichtigte Überblickscharakter des Buches macht inhaltliche Raffungen unvermeidbar, will aber gerade hierdurch Studienanfänger zu weiterführender Auseinandersetzung mit Einzelfragen des Faches motivieren. Die formale Gestaltung des Buches soll das Selbststudium erleichtern. Die in den Randspalten gegebenen Hinweise und Piktogramme dienen der schnellen Orientierung. Beispiele veranschaulichen die theoretischen Aussagen. Als Schlüsselbegriffe gekennzeichnete Termini weisen auf die Fachsprache, die im Studium anzueignen ist. Gezielte Fragen am Ende eines Kapitels dienen der Reflexion des Gelesenen. Denkanstöße und spezifische Literaturhinweise sollen zur weiterführenden Vertiefung von Einzelaspekten anregen. Das Glossar am Ende des Buches klärt zentrale Fachbegriffe. Angaben zu weiteren Informationsquellen sind im Anhang aufgeführt.
Definition | |
Literaturempfehlung, weiterführende Literatur | |
Beispiel | |
Denkanstöße | |
Fachbegriffe der Disziplin | |
Übungsaufgaben am Ende der Kapitel |
1Geistigbehindertenpädagogik – ein komplexes System von Hilfen und Maßnahmen
Der nachfolgende Überblick vermittelt einen ersten Eindruck von der Breite eines Faches, das sich als Praxis, Theorie und Forschung der Erziehung, Bildung und Rehabilitation von Menschen mit geistiger Behinderung versteht. Die Übersicht will die spätere Einordnung der thematisierten Frage- und Aufgabenstellungen in das Gesamtsystem der Geistigbehindertenpädagogik erleichtern. Dazu sollen zunächst einige zentrale Begriffe geklärt werden.
1.1Terminologische Klärung
Die Geistigbehindertenpädagogik ist ein Teilgebiet des größeren Systems der Heiloder Sonderpädagogik, auch Behinderten-, Rehabilitations- oder Spezielle Pädagogik genannt. Obwohl sich alle Begriffe auf das Behindertenerziehungswesenbeziehen und häufig synonym verwendet werden, meinen sie dennoch nicht dasselbe. Darum sollen sie hier kurz charakterisiert und von einander abgegrenzt werden.
Heilpädagogik
Der Begriff der Heilpädagogik wurde im 19. Jahrhundert von den Pädagogen Georgens und Deinhardt eingeführt und bezog sich zunächst auf die Versorgung und Erziehung von Menschen mit geistiger Behinderung („Schwachsinnige“). Die beiden Autoren verstanden die Heilpädagogik als Kritik an der bestehenden Pädagogik; einer Pädagogik, die Kinder und Jugendliche mit Behinderungen nicht berücksichtigte. Aufgrund der schlechten medizinischen Versorgung dieser Menschen und der unzureichenden Erziehung bestimmte die Heilpädagogik ihren Standpunkt anfangs zwischen Allgemeiner Pädagogik und Medizin.
Abb. 1: Terminologische Vielfalt
In der Folgezeit wurde die Heilpädagogik immer wieder neu interpretiert und definiert, was sie zu einem Sammelbegriff unterschiedlichster Bedeutungen machte. Diese begriffliche Uneindeutigkeit führte zu Kritik vor allem seitens anderer behindertenpädagogischer Arbeitsbereiche wie der Sinnesgeschädigten- oder Körperbehindertenpädagogik, die der Heilpädagogik unter anderem ihre starke medizinische Anbindung vorwarfen: Die Heilpädagogik sei nicht eindeutig pädagogisch bestimmt und werde aufgrund ihrer starken Orientierung an der Medizin zu einer Heilbehandlung krankhafter Zustände durch pädagogische Mittel.
Kritik fand auch eine andere, die theologische, eher auf die Vermittlung des Seelenheils ausgerichtete, Interpretation der Heilpädagogik, weil sie diese in den Augen der Kritiker zu einer Heils-Pädagogik machte; einer Pädagogik, deren Erziehungsziel das selbstständige Erstreben des Heils im theologischen Sinne war. Trotz der Beanstandungen hat sich der Begriff der Heilpädagogik bis heute gehalten und dies vor allem in Österreich und der Schweiz. Wenn Speck von „System Heilpädagogik“ (2008)