Weitere Ursachen des Schwachsinns wie z. B. das sog. DownSyndrom entdeckte die Medizin erst später. 1866 publizierte der englische Arzt John Langdon H. Down (1826–1896) seine „Beobachtungen zu einer ethnischen Klassifizierung von Schwachsinnigen“.
„Darin unternimmt er“, wie Speck berichtet, „den Versuch, die ihm bekannten Gruppen von Schwachsinnigen bestimmten Rassen zuzuordnen, und beschreibt dabei erstmals den von ihm sogenannten ,mongolischen Typ der Idiotie‘. Beachtlich ist hierbei, dass er nicht nur Symptomatologie und eine spekulative Ätiologie darstellt, sondern auch konkrete Möglichkeiten der Behandlung –, systematic training‘„ (Speck 1999, 15).
Die Zuwendung zu Menschen mit geistiger Behinderung erfolgte im 19. Jahrhundert aus drei verschiedenen Beweggründen: aus medizinischem, pädagogischsozialem oder religiös-karitativem Interesse. Die ersten Anstaltsgründer waren reformerisch denkende Ärzte, Pädagogen (Taubstummenlehrer) und Theologen, denen es um die Verbesserung der Lebenssituation dieses Personenkreises ging. Bestärkt wurden sie in ihrem Tun durch einen optimistisch-aufklärerischen Zeitgeist. „Das Vordringen des naturwissenschaftlichen, d.h. kausalen Denkens, gab starke Anstöße für eine systematische Entfaltung der Arbeit für den geistesschwachen Menschen“ (13). Bei der Gründung der ersten Heil- und Pflegeanstalten war die Hoffnung auf medizinische Heilung bestimmend. Man versuchte, den Gesundheitszustand der Zöglinge durch Hygiene und diätetische Ernährung zu verbessern. Bäder, Waschungen, Schwimmen und Gymnastik sollten den Körper stärken. Die Ärzte suchten nach Behandlungsmethoden, die aber nur begrenzt wirkungsvoll waren. Die parallel dazu beginnenden Erziehungsversuche erwiesen sich als erfolgreicher.
Pestalozzi unternahm z. B. einen ersten Erziehungsversuch, indem er in seinen Erziehungsanstalten auf dem Neuhof (1777/78) neben verwahrlosten auch zwei „schwachsinnige“ Kinder aus einem Tollhaus aufnahm. In seinem 1777 veröffentlichtem Werk „Bruchstücke aus der Geschichte der niedrigsten Menschheit – Aufruf der Menschlichkeit zum Besten derselben“ hält er als ein Ergebnis dieser Erziehungsversuche fest:
„Und es ist tröstende Wahrheit, auch der Allerelendeste ist fast unter allen Umständen fähig zu einer alle Bedürfnisse der Menschheit befriedigenden Lebensart zu gelangen – Keine körperliche Schwäche, kein Blödsinn allein gibt Ursach genug – solche mit Beraubung ihrer Freiheit in Spitälern und Gefängnissen zu versorgen – sie gehören ohne anders in Auferziehungshäuser, wo ihre Bestimmung ihren Kräften und ihrem Blödsinn angemessen gewählt und leicht und einförmig genug ist – so wird ihr Leben, der Menschheit gerettet, für sie nicht Qual sondern beruhigte Freude, für den Staat nicht lange kostbare Ausgabe sondern Gewinnst werden“ (in Möckel 1997, 32).
Erste Angaben über gezielte Erziehungsversuche schwachsinniger Menschen stammen von Jean-Marc-Gaspard Itard (1774–1838), einem Taubstummenlehrer und Arzt in Paris, der über fünf Jahre „Victor“ oder das „Wildkind von Aveyron“ mit pädagogischen Mitteln zu kultivieren versuchte. Der im Wald aufgewachsene und völlig verwilderte Junge „Victor“ war zwar als psychiatrisch unheilbarer „Idiot“ diagnostiziert worden, dennoch war Itard davon überzeugt, seinen Zustand durch eine Form von Erziehung verbessern zu können.
„Dabei ging er von der für damalige Ansichten erstaunlichen Annahme aus, daß die Ursache für das verwilderte Verhalten des Jungen in sozialer und pädagogischer Vernachlässigung zu suchen sei, und daß deshalb durch gezielte Übungen und soziale Zuwendung eine soziale Eingliederung und eine Förderung der Intelligenz zu erreichen sei. Die – wenn auch begrenzten – Erfolge gaben Itard prinzipiell Recht“ (Speck 1979, 58).
Mit seiner Erziehung versuchte er, die Sinne des Jungen zu entwickeln und dadurch seine intellektuellen Funktionen anzuregen. „Es war der Beginn der ,physiologischen Erziehung‘, deren Basis die Erweckung der Sensibilität der Sinne durch starke Reize, also eine Sinnesschulung darstellte“ (Mühl 1991, 11).
Itards Berichte beeinflussten spätere Erziehungsversuche und vor allem den Taubstummenlehrer, Arzt und Leiter einer Idiotenschule in Paris, Edouard Séguin (1812–1880), der ein erstes Lehrbuch über die Behandlung der „Idiotie“ schrieb. Diese Schrift hat die Schwachsinnigen- oder Geistigbehindertenpädagogik des 19. Jahrhunderts nachhaltig beeinflusst. Séguin erkannte, „daß die Erziehung geistig behinderter Kinder auf wissenschaftlichem Niveau nur durchdacht werden kann, wenn zugleich die gesamte Erziehung mitreflektiert wird“ (Möckel 1997, 60).
Physiologische Erziehung
Séguin entwickelte das Konzept der „physiologischen Erziehung“, als Sinnes- und Funktionsschulung weiter. Es war prägend für die pädagogische Arbeit in den Anstalten und hat viele Pädagogen bis heute nachhaltig beeinflusst wie z. B. Maria Montessori, die den sensualistischen Standpunkt in ihre Pädagogik übernahm. Spuren dieser Methoden sind auch heute noch in Konzepten der Sinnesschulung wie z.B. bei J. Ayres oder A. Fröhlich zu finden.
Die „physiologische Erziehung“ diente den Philanthropen dazu, den Allgemeinzustand der Menschen mit Behinderung zu verbessern, ihre Bildungsfähigkeit und damit ihr Mensch-Sein unter Beweis zu stellen, womit sie letztlich die öffentliche Anerkennung des Lebensrechtes ihrer Schützlinge anstrebten.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die ersten Erziehungsversuche keine Einzelinitiativen blieben, da durch ihre Erfolge das Interesse an Menschen mit Behinderung wuchs. Aus der Fülle der im 19. Jahrhundert errichteten Anstalten sollen hier nur beispielhaft vier genannt werden:
1845 Gründung der „Heil- und Bildungsanstalt für Blödsinnige“ in Berlin durch Carl Wilhelm Saegert (1809–1879, Direktor der königlichen Taubstummenanstalt Berlin,
1863 Gründung der Alsterdorfer Anstalten bei Hamburg durch Pastor Dr. Heinrich Sengelmann (1821–1899),
1872 Gründung der Anstalt für Epileptiker in Bethel bei Bielefeld durch Pastor Dr. Friedrich von Bodelschwingh (1831–1910),
1884 Gründung der Ursberger Anstalten, eine der größten Einrichtungen mit lange Zeit über tausend behinderten Menschen und vielen hundert Betreuern.
Die meisten Anstaltsgründungen gehen auf private Initiativen zurück und waren kirchlich-karitative Institutionen, die von einem christlichen Ethos getragen waren. „Man würde ihnen aber nicht gerecht, wollte man sie nur unter diesem Aspekt betrachten. Sie waren vielmehr (…) mitgetragen von den pädagogischen und medizinischen Impulsen und Erkenntnissen, die sich in dieser Zeit allmählich verbreiteten“ (Speck 1999, 15). Die heilpädagogische Arbeit dieser Zeit war nicht nur eine praktische, eine Entwicklung und Erprobung von konkreten Behandlungs- und Erziehungsmethoden.
Es gab auch die ersten wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit dieser neuen Form der Pädagogik, z.B. die von Georgens und Deinhardt, über die man sich auf Tagungen und Treffen austauschte. Jan Daniel Georgens (1823–1886) und Heinrich Marianus Deinhardt (1821–1880) waren Pädagogen und gründeten in der Nähe von