Verschiedene Logien könnten ein Wissen Jesu um seinen Tod voraussetzen; so z.B.Lk 12,49.50 („Ich bin gekommen, um Feuer auf die Erde zu werfen, und wie sehr wünschte ich, es wäre schon entfacht! Aber ich muss mich mit einer Taufe taufen lassen, und wie ist mir bange, bis sie vollzogen ist“), Lk 13,31f (Jesus antwortet auf Warnungen vor Herodes Antipas: „Geht und sagt diesem Fuchs: Siehe, ich treibe Dämonen aus und vollbringe Heilungen, heute und morgen, und am dritten Tag werde ich vollendet“), Mk 14,7 (Jesus in der Salbungsgeschichte von Bethanien: „Die Armen habt ihr immer bei euch, mich aber habt ihr nicht immer bei euch“; vgl. Mk 2,19). All diese Texte sind nicht eindeutig, denn ihre vor- oder nachösterliche Entstehung ist ebenso unsicher wie der Bezug auf Jesu Tod. Aussagekräftiger ist hingegen die Abendmahlsüberlieferung mit damit verbundenen Einzellogien.
Das Abendmahl
Das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern muss im Kontext seiner vorhergehenden Mahlpraxis und damit auch seiner Gottesreichverkündigung gesehen werden (s.o. 3.4.5). Die Nähe des Reiches Gottes gewinnt in den Mahlzeiten mit gesellschaftlichen und rituellen Außenseitern konkrete Gestalt, „denn der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und zu retten, was verloren ist“ (Lk 19,10). Jesu letztes Mahl, obwohl nur mit den Jüngern gehalten, weist wie Jesu Mahlzeiten mit Zöllnern und Sündern zuvor auf die Gemeinschaftsmahlzeit im Gottesreich voraus, deren gewisses Unterpfand es zugleich ist. Von grundlegender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang der eschatologische Ausblick in Mk 14,25: „Amen ich sage euch: ich werde sicherlich von dem Gewächs des Weinstocks nicht mehr trinken bis zu jenem Tage, wo ich es von neuem trinken werde im Gottesreich.“324 Der eschatologische Ausblick weist voraus auf die Mahlzeit im Gottesreich. Eine Mahlzeit ist in jüdischen Texten verbreitetes Bild für die eschatologische Gemeinschaft in Gottes neuer Welt (vgl. Jes 25,6–12). Durch den eschatologischen Ausblick wird das Abendmahl zum Vorzeichen dieser Herrlichkeitsmahlzeit. Inhaltlich verdeutlicht Mk 14,25 zweierlei: 1) Jesus rechnete wenigstens unmittelbar vor seiner Verhaftung mit seinem Tod und nahm von seinen Jüngern bewusst Abschied. 2) Der Gedanke an seinen Tod führte Jesus keineswegs zu einer Aufgabe seiner Hoffnung auf das Reich Gottes. Der Zeitpunkt seines Kommens bleibt zwar durch das unbestimmte „an jenem Tag“ in der Schwebe, aber die gewisse Hoffnung auf das Kommen der Gottesherrschaft hält sich ungebrochen durch. Mk 14,25 lässt sich darüber hinaus als Todesprophetie verstehen: Jesus trinkt zum letzten Mal, bevor er am Mahl im Reich Gottes teilnimmt. Möglicherweise hofft er aber auch, das Reich Gottes breche so bald herein, dass ihm der Weg durch den Tod erspart bleibt.
Historisch sehr wahrscheinlich ist ein letztes Mahl Jesu mit seinen Jüngern unmittelbar vor seiner Verhaftung (vgl. 1Kor 11,23c). Er tat dies wie bei den vorhergehenden Mahlgemeinschaften in der Gewissheit der Gegenwart Gottes und in der Erwartung des Reiches Gottes. Ob dieses Mahl ein Passamahl war, lässt sich nicht mehr ausmachen325. Dagegen spricht: a) Paulus (bzw. seine Tradition) als ältester literarischer Zeuge weiß davon nichts (vgl. das Passa-Motiv in 1Kor 5,7!); b) Mk 14,12 ist offensichtlich sekundär (ebenso Lk 22,15). c) Jesus wurde wahrscheinlich an einem 14. Nisan hingerichtet (vgl. Joh 18,28; 19,14; auch 1Kor 5,7), das Passafest beginnt aber mit dem 15. Nisan. Dafür spricht: Der Ablauf des letzten Mahles kann im Rahmen einer Passafeier verstanden werden (speziell Lukas!). Wahrscheinlich ist anzunehmen: Jesus feierte das letzte Mahl im Zusammenhang mit einem Passafest; zugleich gilt aber, dass der theologische Ertrag dieses historisch nicht zu lösenden Problems gering ist.
Das letzte Mahl erhielt seinen besonderen Charakter durch das Bewusstsein Jesu, dass er sterben wird. Jesus verband seinen bevorstehenden Tod offenbar mit der Erwartung, das Reich Gottes werde nun umfassend anbrechen (Mk 14,25). Dieses Sterben konnte von Jesus nicht losgelöst gedacht werden von seiner einzigartigen Gottesbeziehung und seiner ausgeprägten Gottesgewissheit, die sich vor allem in seiner Reich-Gottes-Verkündigung und seinen Wundern zeigten. Jesu Hoheitsbewusstsein forderte geradezu eine Deutung des bevorstehenden Geschehens! Diese Deutung konnte nicht in einfacher Kontinuität zu den Mahlfeiern des Irdischen stehen, denn mit dem bevorstehenden Tod stellte sich für Jesus umfassend die Frage nach dem Sinn seiner Sendung. Seiner Person kam dabei eine zentrale Bedeutung zu, da bereits die Gegenwart des Reiches Gottes und die Wunder ursächlich von ihr abhingen (vgl. Lk 11,20). Entsprechend forderte das bevorstehende Geschehen eine Deutung im Hinblick auf die Person Jesu, die nur er selbst geben konnte326. Wahrscheinlich verstand Jesus seinen Tod in Aufnahme von Jes 53 als Selbsthingabe für die ‚Vielen‘ (vgl. Mk 10,45b)327; der Tod steht damit in Kontinuität zum Leben des irdischen Jesus, der ‚für andere‘ eintrat und lebte. Diese Selbsthingabe formuliert Jesus im Verlauf des letzten Mahles gleichnishaft mit Deuteworten (vgl. Mk 14,22.24): τοῦτό ἐστιν τὸ σῶμά μου („dies ist mein Leib“) und τοῦτό ἐστιν τὸ αἷμά μου … ὑπὲρ πολλῶν („dies ist mein Blut … für die Vielen“)328.
Diese Deuteworte orientieren sich nicht an dem, was eigentlich im Passamahl im Vordergrund stand, und sie gewinnen durch die Gesten eine weitere Dimension: Das gemeinsame Trinken aus dem einen Becher könnte darauf hinweisen, dass Jesus angesichts seines Todes die von ihm gestiftete Gemeinschaft über seinen Tod hinaus fortgesetzt wissen wollte. Jesus feierte somit das letzte Mahl in dem Bewusstsein, mit seinem Tod werde Gottes Reich und damit auch das Gericht hereinbrechen. Er gibt sein Leben, damit die ‚Vielen‘ in diesem Endgeschehen Rettung erlangen werden. Die Erwartung des mit seinem Sterben sich umfassend enthüllenden Reiches Gottes erfüllte sich für Jesus nicht (vgl. Mk 15,34). Gott handelte an ihm durch die Auferweckung von den Toten in unerwarteter Weise, zugleich aber auch in Kontinuität: Jesu Tod ist und bleibt rettendes Geschehen für die ‚Vielen‘. Nachösterlich wurde das letzte Mahl zum Erfüllungs- und Erinnerungszeichen des Gekommenen, durch das sich dieser in der Kraft des Heiligen Geistes als lebendiges und gegenwartsmächtiges Subjekt seines Gedächtnisses, als Stifter eines neuen Bundes und als kommender Herr von Menschheit und Welt erweist. Diese Grundstruktur prägt trotz unterschiedlicher Ausformungen alle Abendmahlsüberlieferungen.
Wenn Jesus bewusst nach Jerusalem ging, den Folgen seiner bewussten Provokationen nicht auswich und beim letzten Mahl seinen bevorstehenden Tod deutete, dann ist eine Schlussfolgerung unausweichlich: Jesus hoffte und erwartete, dass mit seinem Auftreten in Jerusalem das Reich Gottes umfassend anbrechen werde. Somit steht sein Ende in einem unmittelbaren Zusammenhang mit seinem vorangegangenen Wirken. Jesu dienende Pro-Existenz329 für Gott, sein Reich und die Menschen umfasst und charakterisiert gleichermaßen sein Leben und Sterben.
1 Die ältere Forschung wird von A.SCHWEITZER, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, dargeboten; zu der mit R.Bultmann verbundenen Entwicklung vgl. H.ZAHRNT, Es begann mit Jesus von Nazareth, Stuttgart 31969; W.G. KÜMMEL, 40 Jahre Jesusforschung (1950–1990), Königstein/Bonn 1994; eine kritische Darstellung der neueren amerikanischen Forschung bietet N.T. WRIGHT, Jesus (s.o. 3), 28–82. Relevante Texte der Debatte finden sich in: M.BAUMOTTE (Hg.), Die Frage nach dem historischen Jesus.
2 Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger. Noch ein Fragment des Wolfenbüttelschen Ungenannten, herausgegeben von Gotthold Ephraim Lessing, Braunschweig 1778.
3 A.a.O., 7f.
4 D.F. STRAUSS, Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet, Erster Band, Tübingen 1835, V.
5 E.KÄSEMANN, Das Problem des historischen Jesus, 213.
6 Der Terminus ‚third quest‘ geht von einer forschungsgeschichtlichen Dreiteilung aus: 1) Die Leben-Jesu-Forschung des 19.Jh. mit ihren Reaktionen im frühen 20.Jh.; 2) die ‚neue‘ Frage nach Jesus ab der Mitte des 20. Jh.; 3) die ‚dritte‘ Fragerunde