Theologie des Neuen Testaments. Udo Schnelle. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Udo Schnelle
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846347270
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Mt 5,44; Ehescheidung: Mk 10,1–12; größtes Gebot: Mk 12,28–34). Auch der große Komplex der Speisegesetze (Mk 7,1–15), das Thema ‚rein – unrein‘, speziell der Umgang mit kultisch unreinen Menschen (Mk 2,14–17; Lk 7,34; 15,1; 18,9–14) wurde unterschiedlich beurteilt. Schließlich waren rituelle Praktiken bzw. Einzelfragen (Mk 2,18–22; 7,9–13; Mt 23,23) und religiös-politische Streitpunkte (Mk 12,13–17) von Bedeutung. Dem Exorzisten Jesus warfen die Schriftgelehrten vor, mit dem Satan im Bunde zu stehen (Mk 3,22–30); sie beobachteten ihn kritisch (Mk 9,14–29), klagten ihn an, sich Gott gleich zu machen (Mk 2,1–12) und sprachen ihm Vollmacht und Legitimation ab (Mk 11,27–33). Das ebenfalls sehr angespannte Verhältnis zwischen Jesus und den Pharisäern bzw. den Anhängern des Herodes Antipas spiegelt sich in Mk 3,6; 8,15; 12,13 wider. Insgesamt scheint die Kombination von Heilungen, Exorzismen und Lehre die große Autorität und den anhaltenden Erfolg Jesu begründet zu haben. Dies wiederum rief seine Gegner auf den Plan, die ihre Tora- und Lehrkompetenz infrage gestellt sahen. Dabei spielten nicht nur theologische Differenzen, sondern auch soziale Motive eine Rolle. Die Zurückweisung Jesu in Nazareth weist darauf hin, dass er wegen seiner Herkunft und damit fehlenden Autorisierung abgelehnt wurde (vgl. Mk 6,1–6par). Seine Lehre und Exorzismen auch in Synagogen (vgl. Mk 1,21–28) galten Pharisäern und Schriftgelehrten als illegitim. Jesus gehörte nicht zu den etablierten Tora-Auslegern (vgl. Mk 6,3: „Ist das nicht der Zimmermann“300; Joh 7,15), die durch Herkunft (z.B. aus Priesterfamilien) und Ausbildung autorisiert waren und eine bestimmte soziale Position einnahmen. Es ist sicherlich kein Zufall, dass insbesondere die Schriftgelehrten301 auch in der Passionsgeschichte eine führende Rolle spielten (vgl. Mk 8,31; 11,18; 14,1.43.53; 15,1.31).

      Jesus entzog sich den Ovationen beim Einzug in Jerusalem nicht, d.h. er akzeptierte die damit verbundenen messianischen Erwartungen (Mk 11,9fpar). Da der Einzug auch Elemente eines Herrscherzeremoniells enthielt, konnte er politisch interpretiert werden. In zeitlicher Nähe und sachlicher Kontinuität zum Einzug steht die Tempelreinigung (Mk 11,15–18par)302.

      Die Tempelreinigung

      Jesus findet im Tempelbezirk Verkäufer von Opfertieren und Geldwechsler vor, die ursprünglich zur Aufrechterhaltung eines geordneten Kultbetriebes dienten. Nicht jedes herbeigebrachte Tier konnte von Priestern einzeln geprüft werden, und auch die Geldwechsler übten eine Dienstleistung aus, denn nach Ex 30,11–16 musste jeder männliche Jude ab 20 Jahren eine Doppeldrachme als Tempelsteuer entrichten. Das Ausmaß der Tempelreinigung lässt sich in ihren Einzelheiten nicht mehr genau rekonstruieren, aber Jesus scheint mit Gewalt gegen (einige) Tierverkäufer und Geldwechsler vorgegangen zu sein. Damit verbindet sich ein Drohwort gegen den Tempel, das den Kern von Mk 13,2 bildet: „Hier wird nicht ein Stein auf dem anderen bleiben, der nicht herausgebrochen wird.“303 Tempelreinigung und Tempelwort zielten nicht auf eine Wiederherstellung eines gottgefälligen Tempelkultes, wie sie in der Geschichte des Judentums immer wieder gefordert wurde304. Vielmehr war Jesus der Meinung, dass mit der Gegenwart und dem Kommen des Reiches Gottes der Jerusalemer Tempel seine Funktion als Ort der Sühne für die Sünden verloren hat. Weil die Herrschaft des Bösen zu Ende geht, bedarf es keiner Opfer mehr305.

      Verhaftung und Verhör

      Welche Rolle spielten jüdische Instanzen in dem Verfahren gegen Jesus? Wahrscheinlich wurde Jesu Aktion gegen den Tempel als Infragestellung der wirtschaftlichen und politischen Ordnung interpretiert und damit insbesondere von den Sadduzäern zum Anklagegrund instrumentalisiert306. Nicht ‚die Juden‘, sondern die Sadduzäer und Schriftgelehrten scheinen die treibende Kraft bei der Verhaftung Jesu gewesen zu sein (vgl. Mk 14,1.43.53.60; 15,1.11.31; Jos, Ant 18,64: „… und obwohl ihn auf Betreiben der Vornehmsten unseres Volkes Pilatus zum Kreuzestod verurteilte …“)307. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang eine Überlieferung bei Josephus, die zeigt, dass Prophetie gegen den Tempel und die Stadt Jerusalem offenbar eine Beteiligung der jüdischen Kapitalgerichtsbarkeit an der grundsätzlich Römern zustehenden Rechtsfindung verlangten308. Der Text bestätigt die Existenz eines etablierten Instanzenweges. Von führenden Männern der jüdischen Selbstverwaltung wird ein offizielles Verfahren gegen den Propheten Jesus Ben Ananias angestrengt. Er wird zunächst von Mitgliedern des Synhedriums verhört und dann dem Prokurator übergeben. Die Geißelung ging in der Regel der Vollstreckung eines Todesurteils voraus, d.h. die jüdischen Instanzen dürften einen Kapitalprozess angestrengt haben, die letztgültige Entscheidung lautete allerdings in diesem Fall auf Freispruch. Ein ähnlicher Ablauf ist für den Prozess gegen Jesus von Nazareth zu vermuten. Die Tempelreinigung brachte Jesus offensichtlich den Vorwurf ein, die öffentliche Ordnung in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht anzugreifen309. Er stellte mit seiner Aktion gegen den Tempel aus der Sicht der Sadduzäer den Kultbetrieb in Frage. Vergehen gegen den Tempel gehörten zu den „durchaus seltenen Fällen, welche die römische Rechtsfindung in der Provinz Judäa bewogen, auf dem Wege einer Ausnahmeregelung die jüdische Kapitalgerichtsbarkeit an der eigenen ‚cognitio‘ zu beteiligen.“310 Vornehmlich die Sadduzäer und Schriftgelehrten dürften Jesu Verhaftung angestrengt und das Verhör vor dem Hohen Rat betrieben haben. Jesus wurde dann dem römischen Statthalter übergeben, der eine eigene Untersuchung durchführte und verantwortlich für das Todesurteil ist.

      Der Prozess und die Kreuzigung

      Die Kapitalgerichtsbarkeit stand in Judäa allein dem römischen Prokurator zu311. Bei dem ersten Prokurator Coponius (6–9 n.Chr.) vermerkt Josephus ausdrücklich, er habe mit uneingeschränkter Vollmacht regiert und vom Kaiser auch das Recht erhalten, die Todesstrafe zu verhängen312. Nach dem Verhör vor dem Hohen Rat wurde Jesus zum Prätorium gebracht, dem Amtshaus des Pilatus313. Warum wurde Jesus nach einem kurzen Prozess verurteilt? Die Römer ließen sich mit Sicherheit von jüdischen Instanzen dazu nicht ohne Grund drängen, und der Hinweis auf innerjüdische Lehrstreitigkeiten reicht ebenfalls nicht aus, um das Eingreifen der Römer zu erklären. Der triumphale Einzug in Jerusalem, die Tempelaktion, Mk 15,2fpar („Bist du der König der Juden? Er aber antworte ihm: Du sagst es!“) und die Kreuzesinschrift (Mk 15,26par: „Der König der Juden“ = ὁ βασιλεῦς τῶν Ἰουδαίων) lassen vermuten, dass die Römer offenbar Jesus für einen (religiös-politischen) Aufrührer hielten, der die gespannte Situation an einem Passafest für sich ausnutzen könnte.

      Die Brisanz dieses Vorwurfes illustrierte Josephus. In den Wirren nach dem Tod Herodes d. Gr. strebten sowohl ein gewisser Judas314 als auch ein gewisser Simon315, Knecht Herodes d. Gr., die Königswürde an. Sie plünderten und brandschatzten mit ihren Truppen, wurden dann aber von den Römern vernichtend geschlagen. Danach griff ein gewisser Athronges316 nach der Krone. Er führte den Königstitel und kämpfte sowohl gegen die Römer als auch gegen die Familie Herodes d. Gr. Auch er wurde von den Römern und ihren Verbündeten besiegt317. Josephus charakterisiert diese unruhige Zeit in einem Summarium: „Und so war Judäa voll von Räuberbanden; und wo immer sich eine Gruppe von Anführern zusammentat, wählten sie einen König, der den Untergang der staatlichen Ordnung herbeiführen sollte. Sie fügten zwar wenigen Römern einen unerheblichen Schaden zu, bereiteten aber ihrem eigenen Volk ein großes Blutbad.“318 Josephus berichtet dann, der römische Statthalter Varus habe weitere Aufstände brutal niedergeschlagen und einmal 2000 Juden kreuzigen lassen319. Hinter den von Josephus als ‚Räuberbande‘ bezeichneten Gruppen standen messianische und soziale Hoffnungen, die sich auf eine Befreiung von der Römerherrschaft und eine gerechtere Ordnung richteten. Nach PsSal 17,21ff wird der von Gott dem auserwählten Volk gesandte König und Gesalbte nicht nur die Heiden vertreiben, sondern auch über sein Volk in Gerechtigkeit herrschen.

      Pilatus ließ Jesus geißeln und zur Kreuzigung abführen. Die Kreuzigung war die bevorzugte römische Todesstrafe für Sklaven und Aufständische, eine besonders grausame und entehrende Strafe320. Jesus von Nazareth wurde wahrscheinlich am Freitag, den 14. Nisan (= 7. April) des Jahres 30 in Jerusalem als Aufrührer von den Römern gekreuzigt321.