Der Zug presste ein dickes, muffiges Luftkissen aus dem Tunnel in die U-Bahn-Station. Viele Menschen standen auf dem Bahnsteig. Männer. Frauen. Jung. Alt. Weiß. Farbig... Ein bunt zusammengewürfeltes Völkchen - und ein vertrautes Bild für Jeff Pepin, den grauhaarigen Zugführer. Ein Bild, das er schon lange nicht mehr wahrnahm, weil es sich in jeder Station wiederholte. Eine lebende Kulisse, die in dem Augenblick in hektische Bewegung geraten würde, sobald der Zug hielt und die Türen aufgingen.
Pepin bremste gefühlvoll. Er hielt sich für einen guten Zugführer, der seinen Job erfahren, konzentriert und gewissenhaft tat. In 25 Jahren hatte noch nie ein Fahrgast Grund gehabt, sich über ihn zu beschweren, und so würde es wohl auch bleiben.
Plötzlich...
Pepin riss entsetzt die Augen auf. Aus der wartenden Menge kippte ein Mädchen. Es fiel auf die Gleise. Blitzschnell leitete der Zugführer die Notbremsung ein, doch er konnte nicht verhindern, dass das Mädchen vom Zug erfasst, überrollt und grauenvoll zerstückelt wurde...
2
Die Tote hieß Yvonne Bercone. Wir hätten uns nicht um diesen Fall gekümmert, wenn sie nicht Andrew Holdens Sekretärin gewesen wäre.
Holden hatte sich bis vor kurzem als unbequemer Senator eine Menge Feinde geschaffen, war dann aus der Politik ausgeschieden und unter die Buch-Autoren gegangen. Seine »Enthüllungen« waren zurzeit der Renner auf dem amerikanischen Buchmarkt, und er befand sich gerade mit seiner Frau auf Autogramm-Tour durch nahezu alle Bundesstaaten. Begleitet von unseren Kollegen Blackfeather und Steve Tardelli, die dafür sorgen sollten, dass ihm nichts zustieß.
Und nun war seine Sekretärin im wahrsten Sinne des Wortes unter die Räder gekommen.
War dem Mädchen plötzlich schlecht geworden? Hatte Yvonne Bercone einen unbedachten Schritt nach vorn getan? Hatte jemand sie gestoßen?
Tragischer Unfall oder heimtückischer Mord? Unser Chef, Mr. McKee, fand, dass es der Sache nur dienlich sein konnte, wenn sich auch das FBI hinzuschaltete.
»Vielleicht wollte jemand Andrew Holden auf diese Weise treffen«, sagte der Special Agent in Charge. »Yvonne Bercone hat schließlich die ganze Schreibarbeit zu diesem Buch für ihn erledigt. Holden hat sich in seinem Buch extra dafür bei ihr bedankt. Bringen Sie Licht in dieses Dunkel.«
Wir rückten also aus. Unsere erste Anlaufstelle war Hank Hogan, unser bester V-Mann. Er hatte ein Büro für private Ermittlungen in Manhattan-Süd, nahe der Brooklyn Bridge. Wir waren seit langem mit dem blonden Hünen befreundet und hatten schon so manchen wertvollen Tipp von ihm bekommen. Er versprach, sich für uns umzuhören.
»Sobald ich etwas erfahre, womit ihr etwas anfangen könnt, melde ich mich bei euch«, versprach der breitschultrige Muskelmann.
Wir hofften, dass er uns schon sehr bald mit brauchbarem Material versorgen würde. In der Zwischenzeit wollten wir aber nicht untätig sein, deshalb suchten wir Jeff Pepin auf.
Der grauhaarige Zugführer erweckte den Eindruck, als würde er sich die Schuld am Tod des Mädchens geben. Er wohnte in einem kleinen Apartment in Brooklyn.
Sein Gesicht war fahl. Die Lippen waren blutleer. Seine Hände zitterten.
»Sehen Sie mich an«, sagte er voller Bitternis. »Dieses schreckliche Ereignis hat mich zum physischen und psychischen Wrack gemacht.«
Ich ließ meinen Blick durch das Wohnzimmer schweifen. Auf einer zerkratzten Kommode standen mehrere gerahmte Fotos. Pepins Augen folgten meinem Blick.
»Meine Familie«, sagte er leise. »Meine Frau und meine drei Töchter. Es sind Drillinge. 13 Jahre alt. Wir sehen uns zweimal im Jahr. Zu Weihnachten und am Thanksgiving Day. Meine Frau lebt mit den Mädchen in Florida. Unsere Ehe besteht nur noch auf dem Papier. Wir haben uns in Freundschaft getrennt.«
»Warum lassen Sie sich nicht scheiden?«, fragte Milo Tucker, mein Freund und Kollege.
Pepin zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Ich will es nicht. Meine Frau will es auch nicht. Vielleicht hoffen wir beide, ohne dass es uns richtig bewusst ist, dass wir irgendwann doch wieder zueinander finden.«
Ich lenkte das Gespräch auf Yvonne Bercones Tod.
Jeff Pepins zitternde Hände ballten sich zu Fäusten. »Ich werde derzeit psychiatrisch betreut, damit ich den Schock irgendwie verarbeiten kann«, sagte der Zugführer. »Aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass ich jemals darüber hinwegkommen werde.«
»Das braucht sehr viel Zeit«, sagte ich.
Pepin sah mich ernst an. »Ich werde nie wieder mit einem Zug fahren können, Agent Trevellian«, sagte er mit belegter Stimme. »Der Psychiater ist zwar anderer Meinung - aber kann er nachvollziehen, mit was für einem Gefühl man in eine Station einfährt, wenn man so etwas mal erlebt hat? Man steht permanent unter Hochspannung, wartet ständig darauf, dass es wieder passiert. Niemand kann mir garantieren, dass nie wieder etwas geschieht. Einem solchen Stress wäre ich nicht gewachsen. Ich könnte meinen verantwortungsvollen Job nicht mehr zuverlässig genug ausüben. Wer unsicher ist, macht leichter Fehler.«
»Was werden Sie tun, Mr. Pepin?«, fragte mein Partner.
»Das weiß ich noch nicht«, gab der Zugführer zur Antwort. »Vielleicht lasse ich mich in die Werkstatt versetzen.«
Ich bat ihn, den Hergang des Geschehens so präzise wie möglich zu schildern. Ich wusste, was ich ihm damit zumutete, und wäre froh gewesen, wenn ich es ihm hätte ersparen können.
Aber er war der einzige Augenzeuge, den wir hatten. Alle, die um Yvonne Bercone herum gestanden hatten, waren spurlos verschwunden.
Stockend erzählte Jeff Pepin. Er musste immer wieder absetzen und tief durchatmen. Es ging ihm seelisch sehr schlecht dabei. Die grauenvollen Bilder liefen einmal mehr wie ein Horror-Schocker in seinem Kopf ab und peinigten ihn erbarmungslos.
»Ist das Mädchen gefallen oder wurde es gestoßen, Mr. Pepin?«, fragte ich.
»Das weiß ich nicht, Agent Trevellian.«
»Ist Ihnen in Yvonne Bercones Nähe irgendjemand aufgefallen?«
Pepin schüttelte den Kopf. »Niemand. Es ging alles so entsetzlich schnell - und dann bremst man und weiß doch, dass man die vielen Tonnen, die einen vorwärts schieben, auf diese kurze Distanz unmöglich zum Stehen bringen kann. Obgleich die Katastrophe in Zeitlupe passiert, kann man sie nicht verhindern. Man ist zum Zusehen verdammt.«
Er legte die Hände auf sein Gesicht und schluchzte.
3