Ein neues Leben!, dachte er. Zumindest ein neuer Abschnitt...
Er lächelte.
Ich habe alle Trümpfe in meiner Hand!, ging es ihm durch den Kopf. Norinsky hatte gar keine andere Wahl, als das Spiel mitzuspielen – ob es ihm nun passte oder nicht.
Anselmo ging die Treppe hinunter. Die Stufen knarrten. Das Hotel, in dem er sich eingemietet hatte, hatte seine besten Tage lange hinter sich. Das Gebäude stammte aus den Dreißigern – aber seit mindestens zwanzig Jahren war keine Renovierung mehr durchgeführt worden.
Für Anselmo war es genau richtig.
Hier war man froh über jeden Gast. Niemand stellte Fragen und es wurde auch niemand misstrauisch, wenn man nicht mit Kreditkarte sondern bar bezahlte. Anselmo besaß zwar eine Kreditkarte, aber er hielt es für klüger, sie im Moment nicht zu benutzen. Er musste vorsichtig sein. Verdammt vorsichtig. Wenn er in den vergangenen gut zwanzig Jahren etwas gelernt hatte dann das.
Wer rechtzeitig untertauchte erhöhte seine Chancen davonzukommen.
Und bis jetzt war er davongekommen.
Roy Anselmo erreichte das Foyer.
Hinter dem Tresen stand die rothaarige Frau.
Sie war damit beschäftigt, Unterlagen zusammenzuheften. Wahrscheinlich Quittungen. Zunächst war sie so sehr in ihre Arbeit vertieft, dass sie Anselmo gar nicht bemerkte. Anselmo näherte sich und blieb dann stehen. Die Junge Frau blickte auf und zuckte zusammen.
„Meine Güte, Sie haben ich mal erschreckt...“
„Tut mir leid.“
„Sie stehen da und starren mich an!“
„Ich sagte doch, es tut mir leid.“
Sie ist allein!, dachte er. Die Gelegenheit war günstig. Aber es gab jetzt etwas anderes, das Vorrang hatte. Später!, dachte er. Du musst abwarten...
Ihr Gesicht veränderte sich. Sie zog die Augenbrauen zusammen und sah ihn auf eine Weise an, die ihm nicht gefiel. So als wäre etwas mit ihm nicht in Ordnung.
Roy Anselmo legte den Zimmerschlüssel auf den Tresen.
„Es ist rund um die Uhr jemand hier“, sagte die junge Frau.
„Haben Sie heute die Nachtschicht?“
„Ja.“
„Ein harter Job, was?“
„Ich bin froh, dass ich die Stelle hab.“
„Ja, aber es muss trotzdem seltsam sein.“
„Wovon sprechen Sie bitte?“
„Ich meine, dass Sie nach draußen gehen müssen, um eine Zigarette zu rauchen.“
„Ich wüsste nicht, was Sie das angeht.“
Anselmos Gesicht wurde zu einer Maske. „Nichts für ungut“, sagte er und in seiner Vorstellung sah er für einen Moment seine Mutter vor sich. Sah das Blut. Die starren Augen. Du musst es tun! Dieser Satz hämmerte immer wieder in seinem Kopf. Seine Hand glitt in die Seitentasche des Jacketts. Dort trug er den Elektro-Schocker.
Seine Hand ertastete die Waffe, umklammerte den Griff und aktivierte das Gerät.
Norinsky erwartet dich. Du darfst nicht zu spät zum Treffpunkt kommen!, meldete sich eine Stimme in seinem Hinterkopf. Wie aus weiter Ferne erschien ihm dieser Ruf.
Er blickte zu Boden. Das Foyer war mit Parkett ausgelegt, das verblasst und abgeschabt war. Aber die Linien waren deutlich zu sehen. Anselmo konnte den Blick nicht von ihnen lassen. Er drehte sich fast wie mechanisch um und folgte den Linien, bis er in der Mitte des Foyers befand. Dann fand er eine Linie, die zur Tür führte, ging mit gesenktem Kopf auf sie zu und anschließend ins Freie, ohne noch ein Wort zu sagen.
31
Anselmo stoppte den Wagen auf einer Asphaltfläche, die zu einer Industriebrache zwischen Seaway Trail und dem Erie-See gehörte. Lagerhallen und Hafenanlage rosteten hier vor sich hin.
Inzwischen war die Dunkelheit hereingebrochen. Ein fahler Vollmond stand hoch über dem Lake Erie, auf dem sich eine Dunstschicht aufbaute, die langsam, auf die Küste zu kroch.
Anselmo schlug den Kragen seiner Jacke hoch. Ihn fröstelte. Er stieg aus, sah sich um. Seine Rechte überprüfte den Sitz der Pistole, die er bei sich trug. Außerdem war er mit einem Elektro-Schocker ausgerüstet. Sicher war sicher. Leuten wie Norinsky traute er nicht über den Weg.
Sollte dieser Kerl ihn vielleicht nicht ernst nehmen?
Eigentlich hatte Anselmo erwartet, dass Norinsky pünktlich war. Ich sollte ihm etwas Feuer unter dem Hintern machen!, dachte Anselmo. Er griff zum Handy, aktivierte es und drückte auf die Kurzwahltaste, unter der er die Nummer von Norinskys Prepaid-Handy gespeichert hatte.
Der Teilnehmer ist vorübergehend nicht erreichbar, sagte eine ziemlich kühl klingende weibliche Stimme.
Anselmo schaltete das Gerät wieder aus und steckte es ein.
Na warte!, dachte er! Du wirst schon sehen, was du davon hast, wenn du dich tot stellst!
In diesem Moment ließen ihn die Motorengeräusche mehrerer Fahrzeuge herumfahren. Zwei Limousinen, eine davon im Stretch-Format. Dazu noch ein Van.
Die Türen des Van öffneten sich. Mehrere Männer mit Maschinenpistolen im Anschlag sprangen heraus und richteten ihre Waffen auf Anselmo.
Als die Leibwächter die Lage als unbedenklich eingestuft hatten, wurden die Türen der Limousinen geöffnet.
Anselmo bemerkte Sumner.
Aber die beherrschende Gestalt, auf die die Augen aller gerichtet waren, glich einer Kugel. Brad Norinsky war Ende vierzig und kaum ein Meter siebzig groß – allerdings wirkte er fast genauso breit. Er wog schätzungsweise hundertzwanzig Kilo. Dass sein Anzug trotzdem perfekt saß, lag daran, dass er ausschließlich Maßanfertigungen trug.
Anselmo verzog das Gesicht. „Oh, großes Aufgebot! Welche Ehre!“
„Wir haben einiges zu besprechen“, sagte Norinsky.
Anselmo grinste. „Ja, das denke ich auch!“
Norinsky machte ein Zeichen.
Aus den Augenwinkeln heraus nahm er eine Bewegung wahr. Etwas schoss durch die Luft. Einer der Männer aus Norinskys Gefolge hatte einen Taser abgeschossen. Die Pfeile mit den Elektroden trafen Anselmo im Rücken. Er wollte nach seiner eigenen Waffe greifen, aber der Stromschlag ließ ihn zusammenkrampfen, dass er im nächsten Moment vollkommen bewegungsunfähig war.
Roy Anselmo brach zusammen und blieb auf dem feuchten Asphalt liegen.
Norinsky trat an ihn heran. Mit der Fußspitze drehte er den hilflosen Anselmo herum. „Niemand tanzt mir auf der Nase herum!“, zischte der korpulente Mann. „Und schon gar nicht so ein Stück Dreck wie du!“
Anselmo war unfähig, etwas zu erwidern.
Er stöhnte nur auf.
Norinsky