„Sie behindern gerade die Verfolgung eines Straftäters – und ich denke nicht, dass das wirklich in ihrem Sinn ist“, gab ich zurück.
Einige Augenblicke lang hörte ich nichts mehr. Dann surrte es und die Tür öffnete sich.
De Aufzug war defekt. Wir gingen über das Treppenhaus in den dritten Stock und hatten wenig später Roy Anselmos Apartmentnummer erreicht. Allerdings wies nichts mehr darauf hin, dass er hier wohnte oder gewohnt hatte. Ein Schild war vor kurzem abgenommen worden, wie man anhand von Umrissen und Schraubenlöchern sehen konnte. Ich betätigte die Klingel.
„Mister Anselmo?“, fragte ich.
Keine Antwort.
„Mister Anselmo, hier spricht Jesse Trevellian, FBI!“
Erneut keine Reaktion. Milo und ich wechselten einen kurzen Blick. Die Tür bewegte sich ein Stück und bildete einen Spalt. Sie war offenbar nur angelehnt gewesen. Ich zog die Dienstwaffe und nahm den Griff in beide Hände. Dann stieß ich die Tür auf. Schon im nächsten Moment ließ ich den Lauf der Waffe wieder sinken. Es war niemand dort. Wir traten ein. Der Wohnungsschlüssel steckte von innen in der Tür. Das Apartment war offenbar möbliert zu vermieten gewesen. Aber nirgends befanden sich in den Schränken und Regalen noch persönliche Gegenstände.
Milo stieß die Tür zur Küche auf, ich nahm mir das Bad vor. Überall bot sich das Bild einer Wohnung, deren Bewohner gerade ausgezogen war. Alles war gründlich gereinigt. Im Bad glänzten die Armaturen. Der Geruch eines Desinfektionsmittels hing in der Luft und erinnerte mich an die typischen Gerüche einer Klinik. Ich steckte die Waffe wieder ein.
„Ich fürchte, Mister Anselmo sehen wir so schnell nicht wieder, Jesse“, meldete sich Milo zu Wort.
Ich nickte. „Das scheint mir auch so.“
„Aber ist das so wichtig?“
„Ja, das ist es, Milo! Immerhin hat seine Zeugenaussage dazu geführt, dass wir den Falschen verhaftet haben!“
„Moment mal – du denkst, dass Anselmo unser Mann sein könnte?“
„Das weiß ich nicht – aber ich weiß, dass mit ihm was nicht stimmt. Warum verschwindet er plötzlich so spurlos? Das sieht doch wie eine Flucht aus!“
„Das mag merkwürdig sein – aber es ist nicht einmal der Hauch eines Indizes, Jesse!“, gab Milo zu bedenken.
Ein Geräusch ließ uns herumfahren.
Die Tür hatte sich in der Zwischenzeit bis auf einen Spalt wieder geschlossen. Etwas stieß dumpf gegen das Holz.
Wir drehten uns um und hoben instinktiv die Dienstwaffen.
„Sind Sie da?“, rief eine heisere Stimme.
Jetzt vergrößerte sich dieser Spalt knarrend wieder. Als die Tür sich weit genug geöffnet hatte, blickte uns ein hagerer alter Mann erschrocken an. Er trug Krücken und mit einer davon hatte er die Tür angestoßen. Jetzt verlor er vor Schreck fast das Gleichgewicht, weil er die Krücke nicht schnell genug wieder auf den Boden setzte.
Mit geweiteten Augen starrte er in die Mündungen unserer Waffen, die wir natürlich sofort senkten.
„Ich tu Ihnen nichts“, sagte er. Ich schätzte sein Alter bei achtzig plus x ein. An seiner etwas schleppenden Art zu sprechen erkannte ich sofort die Stimme aus der Sprechanlage wieder.
„Sie haben uns geöffnet, nicht wahr?“
„Ja, und ich bin mir noch immer nicht sicher, ob ich da nicht einen Fehler gemacht habe!“
Auf seiner Stirnmitte erschien eine ziemlich tiefe Furche. Sein Gesicht hatte eine ovale Form und war abgesehen von einem weißen Kranz so gut wie haarlos.
Ich steckte die Dienstwaffe ein und holte meine ID-Card hervor. Dann trat ich auf ihn zu und hielt ihm das Dokument hin.
„Sehen Sie sich das gut an. Ich bin wirklich vom FBI.“
Er blinzelte. „Wie soll unsereins denn diese Minischrift lesen können? Die drei Buchstaben FBI sind zwar erkennen, aber...“
„Tja, mehr kann ich nicht tun, um Ihnen zu beweisen, wer ich bin, Sir.“
„Sie können mir die Brille aus der Jackentasche nehmen und mir auf die Nase setzen. Wenn ich nämlich die Krücken loslasse, falle ich hin.“
Ich holte ihm also die Brille aus der Tasche und setzte sie ihm auf die Nase. Anschließend sah er sich meinen Ausweis noch mal an. „Sieht echt aus“, meinte er dann.
„Und wenn ich ein Trickbetrüger wäre, hätte ich Ihnen jetzt sowieso schon alles wegnehmen können, was Sie in den Taschen haben“, sagte ich.
Sein Blick streifte interessiert durch das Innere des Apartments. „Ich könnte mich ja mal auf das Sofa da vorne setzen!“, murmelte er und humpelte vorwärts.
„Sie könnten Spuren vernichten“, sagte ich, aber es war schon zu spät.
Er hatte sich auf dem Sofa niedergelassen. Er verlangte jetzt auch Milos Ausweis zusehen. Milo zeigte ihm die ID-Card und meinte dann: „Da Sie jetzt wissen, wer wir sind, wäre es eigentlich ganz höflich, wenn Sie sich auch mal vorstellen würden!“
„Cyrus Norman. Haben Sie das Schild nicht gelesen, auf das Sie gedrückt haben? Wahrscheinlich nicht. Sie wollten nur irgendeinen Idioten dazu bringen, aufzustehen und einen Knopf zu drücken, damit sich unten die Tür öffnen lässt. Und das haben Sie dann ja auch geschafft! Wissen Sie eigentlich, was das für mich bedeutet hat? Ich bräuchte dringend ein neues Knie, aber ich habe leider keine Krankenversicherung, deswegen muss ich mit diesen Dingern hier herumlaufen.“ Er deutete auf seine Krücken, die er rechts und links neben sich an die Sofakante gelehnt hatte.
Milo atmete tief durch.
„Wir wussten ich, dass Sie schlecht zu Fuß sind, Mister Norman“, sagte er.
„Das sage ich doch immer!“ erwiderte er und eine dunkle Röte überzog dabei sein Gesicht. „Genau das sage ich immer! Gedankenlosigkeit ist das Schlimmste! Ich muss mich mit meinen müden Knochen aus dem Sessel quälen, auf dem ich gerade eine Möglichkeit gefunden habe, bequem zu sitzen und Sie machen sich noch nicht einmal Gedanken darum! Oder nehmen Sie den Kerl, der hier wohnte, das war doch auch so einer, der sich über nichts Gedanken machte... Ich meine, wer schon in einer Bar arbeitet! Man kennt das doch! Nachtleben, schnelle Bekanntschaften... Wahrscheinlich Drogen...“
„Kannten Sie Mister Anselmo näher?“, fragte ich.
„Er sah meinen Sohn ähnlich“, sagte Norman. „Also meinem zweiten Sohn von meiner ersten Frau. Mit meiner zweiten hatte ich keine Kinder. Sie starb im vergangenen Jahr. Wo meine erste Frau jetzt lebt, weiß ich nicht. Ich habe sie nicht mehr gesehen, seit unsere Tochter geheiratet hat. Übrigens einen Schwarzen. Meine Frau war deswegen dagegen, aber ich habe ihr immer gesagt, wenn die beiden...“
Er redete einfach immer weiter und Milo warf mir einen hilflosen Blick zu, der nichts anderes zu sagen schien als: Wie bekommen wir den Mann hier wieder weg?
Ich unterbrach schließlich höflich, aber bestimmt seinen Redefluss.
„Mister Norman, wir haben noch einiges zu tun. Nachdem Sie nun hoffentlich überzeugt sind, dass wir rechtmäßig hier unsere Arbeit machen, wäre es vielleicht besser, wenn Sie zurück in Ihre Wohnung gehen. Ist Ihre Wohnung hier auf dem Flur?“
„Eine Tür weiter. Ich habe Sie reden hören und da dachte ich mir, ich schaue mal nach, was das los ist. Die Wände sind nämlich ziemlich hellhörig, müssen Sie wissen.“ Er kratzte sich am Kinn. „Was ist denn hier eigentlich passiert?“
„Mister Norman...“
„Ich meine, wenn Sie Anselmo suchen, verstehe ich nicht,