Ich sah ihn verwundert an. „Ich dachte, Sie sind so schlecht zu Fuß? Und dann laufen Sie im Flur herum?“
„Nur in diesem Stockwerk. Man muss doch etwas fit bleiben. Außerdem habe ich meinen Kumpel Artie erwartet, der zum Schachspielen vorbeischauen wollte und sich verspätet hat.“
Jetzt mischte sich Milo ein. „Sie haben gesagt, die Wand wäre sehr hellhörig. Haben Sie mal mitbekommen, was hier so vor sich ging?“
„Sie meinen, wenn er Besuch hatte?“, schloss Norman.
Milo nickte. „Zum Beispiel.“
„Das war ein ziemlicher Casanova, würde ich sagen. Ich habe ihn nicht einmal mit derselben Frau angetroffen, auch wenn wer seinem Typ eigentlich immer treu geblieben ist.“
„Seinem Typ?“, echote ich.
„Rote Haare. Ja, schauen Sie mich nicht so an, das ist mir schon aufgefallen. Alle Frauen, mit denen ich ihn gesehen habe, hatten rote Haare. Manchmal kürzer, manchmal länger, manchmal glatt, manchmal gelockt...“ Er beugte sich vor und sprach in einem leiseren, verschwörerisch klingenden Tonfall weiter. „Ich wette, dass der Kerl eine ganz üble Masche hatte. Er hat die Frauen betrunken gemacht und dann hier hin abgeschleppt. Eine konnte nicht mal mehr richtig gehen. Er musste sie fast tragen...“
„Wann war das?“, hakte ich nach.
„Ist noch nicht so lange her. Vor vier Wochen vielleicht...“
„Sie haben das mit eigenen Augen gesehen?“
„Ja, das war mitten in der Nacht! Vier Uhr, kann auch halb fünf gewesen sein. Ich meine, Anselmo hatte ja einen Job, bei dem er nachts arbeiten musste, aber wie ich schon sagte, das Haus ist sehr hellhörig. Das hat mich jedes Mal aus dem Schlaf gebracht. Und dieses eine Mal war der Krach besonders groß, weil er mit dem Schlüssel so im Schloss herumgestochert hat. Dabei muss man die Wohnungstüren etwas anziehen, damit sie geöffnet werden können. Das ist bei meiner auch so. Weil das für mich so schwierig ist, lege ich immer einen Keil dazwischen, wenn ich die Wohnung verlasse. Ich gehe ja auch nur ein paar Schritt auf dem Flur...“
„Kommen Sie zu Mister Anselmo zurück“, verlangte ich.
„Tut mir leid, ich wollte nicht abschweifen. Mister Anselmo hatte nur eine Hand frei, weil ihm diese junge Frau so am Hals hing. Oder besser gesagt: über der Schulter. Er musste sie mehr oder weniger hineintragen. Ich habe ihn zur Rede gestellt. Er war ziemlich gereizt und hat gesagt, dass ich mir Ohrenstöpsel kaufen soll.“
„Haben Sie die Frau noch einmal gesehen?“, fragte Milo.
„Da bin ich mir nicht sicher.“
„Wieso?“, fragte ich. „Entweder Sie haben Sie noch einmal gesehen oder nicht. Da gibt es doch eigentlich nichts dazwischen.“
Norman seufzte hörbar. „Ich habe doch sowieso nur ihre Haare gesehen, weil ihr Gesicht auf seiner Schulter lag oder wie auch immer man das nennen will. Einige Zeit später habe ich ihn mit einer jungen Frau mit ähnlicher Haarfarbe gesehen. Es könnte von den Proportionen her dieselbe gewesen sein – aber das weiß ich nicht.“
Immerhin hatten wir einen Zeugen dafür, dass Roy Anselmo ein ausgeprägtes Interesse an Rothaarigen hatte. Ohne es zu wissen hatte uns Norman damit ein weiteres Mosaikstein in einem Muster geliefert, das Anselmo als verdächtig erscheinen ließ. Es passte anscheinend alles zusammen.
„Haben Sie irgendetwas von dem mitbekommen, was hier drinnen gesprochen wurde?“
„Nein, viel geredet wurde da nicht. Und mich hat auch gewundert, wie leise der Kerl mit seinen Eroberungen beim Sex war. Bei den Nachbarn auf der anderen Seite meiner Wohnung hört man nämlich alles. Aber vielleicht ist ja bei Anselmo in dieser Hinsicht auch nicht mehr so viel gelaufen, weil die Damen schon zu betrunken waren... Hat Anselmo irgendetwas verbrochen?“
„Das wissen wir nicht“, wich ich aus.
„So kann man sich doch in einem Menschen täuschen. Ich habe ihn für harmlos gehalten.“
In der Nachbarwohnung klingelte das Telefon. Der Beweis dafür, dass Normans Aussage von der Hellhörigkeit der Wände stimmte.
Für den alten Mann war das das Signal aufzubrechen. Er humpelte aus der Wohnung hinaus und bot uns an, später noch einmal bei ihm vorbeizuschauen.
„Am besten Sie beeilen sich jetzt erst einmal, dass Sie zum Telefon kommen!“, sagte Milo.
„Ach, das ist um diese Zeit wahrscheinlich mein jüngster Sohn Brian. Der weiß, dass ich schlecht zu Fuß bin und lässt den Apparat entsprechend lange klingeln.“
25
Mein Handy klingelte. Captain Josephson meldete sich aus Mac’s Bar. „Wo sind Sie, Agent Trevellian?“, fragte er.
„Nur ein paar Minuten entfernt!“
Ich gab ihm Anselmos Adresse durch. „Und sagen Sie dem Erkennungsdienst Bescheid“, fügte ich noch hinzu. „Hier ist zwar sehr gründlich saubergemacht worden, aber in der Regel finden die Kollegen trotzdem etwas.“
„Haben Sie eigentlich mal bedacht, dass Sie dafür einen richterlichen Befehl brauchen?“, fragte Josephson etwas ungehalten. „Sie sind immerhin in eine fremde Wohnung eingedrungen.“
„Die Tür stand offen. Mister Anselmo ist hier offensichtlich ausgezogen, das heißt der Vermieter hat wieder die Verfügungsgewalt über das Apartment“, entgegnete ich. „Und wenn ich den davon überzeuge, dass es dringend notwendig ist, hier eine erkennungsdienstliche Untersuchung durchzuführen, ist das rechtlich in Ordnung.“
Josephson unterbrach die Verbindung.
„Hast du überhaupt eine Ahnung, wer der Vermieter ist?“, fragte Milo.
„Nein, aber das werden wir herausfinden, indem wir uns bei den anderen Bewohnern dieses Hauses erkundigen.“
26
Roy Anselmo legte seine Reisetasche auf den Boden und setzte sich auf das Bett.
„Es wird hier nicht geraucht“, hörte er die junge Frau sagen, die ihm das Zimmer geöffnet hatte. Sie hatte blondes Haar mit einem deutlichen Rotstich.
„Schon in Ordnung“, murmelte