Als Comisario Arturo Miller eintraf und sein Auto parkte, war der Strand unter ihm schon die reinste Hollywoodkulisse. Die Guardia Civil ankerte in der Bucht mit einem Patrouillenboot, mehrere Zodiacs fuhren durch den Torrente de Cala Pi, setzten Taucher ab – und die Policia Local hatte den gesamten Strand geräumt und gesperrt.
„Ah, die Policia Nacional kommt, damit wir unfähigen Landeier, die Ermittlungen hier nicht versemmeln.“ Ein Mann in Zivilkleidung begrüßte den Neuankömmling spöttisch.
Der Comisario verdrehte die Augen. „Luca, erspar mir den Blödsinn. Du weißt so gut wie ich, dass ich vom Innenministerium hierhergeschickt wurde, weil ihr einen deutschen Pass bei der Leiche gefunden habt.“ Luca Péron, der örtliche Kriminalbeamte aus der Polizeiwache der Policia Local, reichte Arturo Miller zwinkernd die Hand. Der kleine, gedrungene Polizeibeamte war gut zwei Köpfe kleiner als der Comisario. Allerdings war Miller auch über zwei Meter groß. Und im Gegensatz zu Péron schlank und muskulös, der Dorfpolizist schien einen guten Appetit zu haben, er war eher dick und gemächlich – hatte aber dafür einen gesunden Humor. Die beiden gingen die Stufen zum Strand hinunter, Péron schnappte sich von einem Stapel am Boden zwei Einwegoveralls, reichte einen Arturo, dann hob er die Absperrung hoch und beide stapften durch den Sand zum Fundort der Leiche. „Was wisst ihr denn bisher, Luca?“
„Der Todeszeitpunkt ist irgendwo zwischen 0 und 6 Uhr angesiedelt. Glücklicherweise war es gestern so heiß, das der Gerichtsmediziner die Körpertemperatur als Anhaltspunkt nehmen konnte.“
Arturo brummte nur, ging die letzten Schritte zur Fundstelle und sagte: „Dann schauen wir uns die Bescherung mal an.“ Er biss sich auf die Lippe und sagte mit gepresster Stimme: „Heilige Mutter Gottes, so etwas habe ich noch nicht gesehen. Was bei allen Heiligen ist das?“ Dann ließ er sich in die Hocke hinab und schaute sich das Opfer an. Der Gerichtsmediziner aus dem nahegelegenen Städtchen Llucmayor drehte sich um, schaute kurz auf die Abzeichen auf Arturos Schultern, und sagte: „Üble Sache, Comisario. Dem Opfer ist die Haut chirurgisch entfernt worden.“
Péron schluckte. „Vollständig?“
Der Mediziner nickte stumm und stützte die Hände an seinem weißen Overall ab, an dem schon kleine Blutspuren zu sehen waren. Dann deutete er auf den nassen Sand um das Opfer herum. „Es wird noch seltsamer, hier ist keinerlei Blut.“
„Naja, dann wurde das Opfer woanders getötet, das ist doch nicht ungewöhnlich.“, meinte Arturo.
„Sie missverstehen mich, hier ist nicht zu wenig Blut, hier ist gar keines. Das Opfer ist blutleer.“ Vorsichtig kniete sich der Akademiker in den Sand und deutete in die Richtung des Halses. „Es ist schwer zu sehen, aber ich habe eindeutig einen Schnitt in der Kehle identifiziert. Das Opfer wurde ausgeblutet.“
„Gibt es irgendwo zwei Einstichlöcher?“
„Das ist nicht witzig, Comisario“, murmelte der Rechtsmediziner, „das war kein Vampir. Die Frau wurde vermutlich über Kopf aufgehängt und dann direkt geschächtet.“
„Lebendig?“
„Der Schnitt ist ante mortem.“
Péron stammelte: „Sie wollen mir hoffentlich nicht sagen, dass die Frau ...“ Der Dorfpolizist war derartige Verstümmelungen nicht gewöhnt und geriet aus der Fassung.
Der Mediziner biss die Zähne zusammen. „Ja! Die Verletzungen in den Muskeln von der chirurgischen Hautentfernung sind ebenfalls ante mortem, die Frau lebte noch. Ich gehe davon aus, dass sie aber das Bewusstsein schnell verlor. Ob sie betäubt wurde, kann ich erst sagen, wenn ich das Blutbild vorliegen habe.“
Arturo erhob sich und zeigte mit verkniffenem Gesicht um die Leiche herum. „Irgendwelche persönlichen Gegenstände, die bei der Identifizierung helfen könnten?“
Péron drückte ihm eine Kladde in die Hand und sagte: „Alle Daten stehen hier drauf. Wir haben ihren deutschen Personalausweis gefunden und einen Schlüssel zu einer Ferienwohnung“, er zögerte kurz und fuhr dann fort: „für zwei Personen.“ Arturo biss die Zähne zusammen. Das hieß, er musste jemandem den Urlaub versauen. Diesen Teil seines Berufes hasste er, aber er würde ihn niemals abtreten. „Gut, dann gehen wir als erstes dorthin. Ich schaue mir im Auto den Zwischenstand der Ermittlungen an.“ Luca hielt den Comisario am Arm fest und zeigte ihm einen Ausdruck. Arturo starrte darauf: „Wer ist das, wen sollen wir da zu unseren Ermittlungen hinzuziehen? Noch nie gehört!“ Der Dorfpolizist kratzte sich am Kopf, sagte: „Das ist der da!“, und deutete auf die andere Liste in seiner Hand. Der Comisario lachte hell auf. „Nicht ihr Ernst!“ Luca zuckte hilflos mit den Achseln. Sein Vorgesetzter schüttelte den Kopf und setzte sich in Bewegung. Die beiden Ermittler gingen langsam von der Fundstelle weg und steuerten den Dienstwagen an.
Eine Finca in Cala Pi
1. Mai 2017, zur gleichen Zeit
Der alte Mann tauchte seinen Pinsel in den Eimer und zog ihn vorsichtig heraus. Ganz sorgfältig strich er ihn am Rand ab, damit kein Tropfen vergeudet wurde. Es wäre eine Katastrophe, wenn die Menge nicht ausreichen würde, um die Wände zu streichen. Langsam und gleichmäßig strich er unter dem diffusen Leuchten einer Camping-Gaslaterne die Natursteinwand. Das Licht waberte hin und her, wenn die Laterne an ihrer Aufhängung im Gebälk von einem leichten Luftzug ins Schaukeln gebracht wurde. Trotz des hellen Vormittags schien kaum Tageslicht in das Zimmer. Damit er bei seiner wichtigen Arbeit keinen Fehler beging, hatte er zusätzlich die Laterne aufgehängt. Gelegentlich zerdrückte er ein paar Farbklümpchen am Pinsel, warf sie aber nicht fort, sondern strich solange mit dem fast trockenen Pinsel darüber, bis auch das letzte Quäntchen verarbeitet war. „Der Herr soll zufrieden sein mit dem Anstrich, oh ja. Der Herr soll ganz und gar zufrieden sein, oh ja“, murmelte er wirr vor sich hin. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn, perlte ab und rann seine Wange hinunter. Sein altes, vergilbtes Unterhemd war verschwitzt, aber blitzsauber. Ungewöhnlich für einen Mann, der gerade mit Malerarbeiten beschäftigt war. Sein Gesichtsausdruck war konzentriert und fokussiert. Als bestünde die Welt nur noch aus ihm und der Wand. Strich an Strich setzte er aneinander. Und achtete mit höchster Präzision darauf, dass nicht ein Millimeter unbedeckt war, dass jede grob verputze Ritze zwischen den rauen Natursteinen etwas Farbe abbekam. Gott möge verhüten, dass noch etwas von dem uralten Mörtel dazwischen ungestrichen blieb. Oder gar noch etwas von dem dunkelbraunen Anstrich der letzten Farbschicht zu sehen wäre. „Der Herr muss unbedingt zufrieden mit mir sein, oh ja. Ohne Zweifel, oh ja.“ So abgedunkelt, wie der braune Anstrich war, musste der letzte Maler hier vor Jahrzehnten gestanden haben. Die Wände des kleinen Zimmers hatten den Anstrich bitter nötig. An den anderen, ungestrichenen Wänden, bröckelte die Farbe stellenweise schon von der Wand ab, darunter offenbarten sich noch dunklere, ältere Farbschichten. Immer wieder tauchte der alte Mann seinen Pinsel mit gleichbleibender Hingabe in den Topf, als hinge sein Leben davon ab. Eine Stimme hallte durch den Raum und wisperte: „Streiche die Wände.“ Sie schien durch den Raum zu wandern und verklang leise im Ohr des alten Mannes. „Ich streiche doch, Herr. Ich streiche so schnell und gut ich kann, oh ja.“ Er krümmte sich zusammen und tauchte flugs den Pinsel wieder ein. Etwas Spucke bildete sich in seinem Mundwinkel und ein hauchdünner Faden rann aus seinem Mund. Er hatte Angst davor, dass die Farbe nicht ausreichen würde. Eine Höllenangst davor, dass ein Stück Wand ungestrichen blieb. Er bemühte sich noch mehr als zuvor, aber der Druck ließ seine Hand unsicher werden. Er rutschte ab. Schrie entsetzt auf. Schaute sich hektisch um, als würde er von irgendwoher eine Strafe erwarten. Als diese ausblieb, begutachtete er den Schaden. Mit zusammengebissenen Zähnen strich er ruhig über die betreffende Stelle. Betrachtete sie. Bewegte den Pinsel an einem Punkt etwas hin und her. Hielt dann inne, um sich den Schweiß abzuwischen. Dann nickte er vorsichtig. Der Schaden war behoben. Mittlerweile sah er seine Arbeit als einen Kampf, jede überwundene Ritze als einen besiegten Gegner und jeden Stein als eine gewonnene Schlacht. Er schaute auf die Uhr. Schaute auf die Wand hinter sich. Die dritte Wand war geschafft. Müdigkeit überfiel ihn, er arbeitete schon seit Stunden ohne Pause. Eigentlich seit gestern. Noch knapp vier Stunden