Später am Abend flackerte im Kamin ein Feuer, das bedrohliche Schatten an die Wände warf. Es knisterte unruhig und gelegentlich knackte es laut und vernehmlich, so als würde ein Knochen brechen. Von draußen drang das Zirpen der Grillen und Zikaden herein, die unbekannten Geräusche klangen für den Jungen wie eine Sinfonie des Unheils. Der Indio hatte sich in einer Ecke des Raumes auf dem harten, kühlen Boden zusammengerollt und den Kopf auf seine Arme gelegt. Die Temperatur fiel langsam auf ein angenehmes Niveau. Er gab vor zu schlafen, in der Hoffnung, der alte Mann würde ihn verschonen. Seine Hoffnung starb jedoch, als er die Schritte hörte. Der alte Mann kam, legte eine Kette an seinen Knöchel, die er an einem eisernen Ring in der Wand befestigte. Dann legte sich sein Peiniger schlafen. Eine Stunde später, als der Junge sicher war, dass der Mann schlief, begann er das Schloss zu untersuchen. Dann tastete er mit der Zunge in seiner Wange herum und beförderte schließlich ein kleines Knöchelchen ans Tageslicht, das er vorsichtig in das grobe Schlüsselloch des Schlosses führte. Mit einem Auge behielt er den alten Mann im Blick, während er versuchte, das Schloss zu knacken. Plötzlich hörte das Schnarchen auf. Der Junge erstarrte. Seine Hand verbarg blitzschnell das Knöchelchen. Der Mann drehte sich im Bett herum, ein Fuß schwang über die Bettkante. Der Indio wagte es nicht, aufzublicken. Ein, zwei Sekunden war völlige Stille. Dann setzte das Schnarchen wieder ein. Er atmete auf und begann weiter an dem Schloss zu arbeiten. Schließlich klickte es leise und der Bolzen schnappte auf. Behände wie ein Wiesel huschte der Junge aus dem Haus. Erst als er wenige Schritte entfernt war, traute er sich, laut aufzuatmen. Er ging an einigen Aleppokiefern vorbei und ließ die dürren Bäumchen hinter sich. Er ging weiter und weiter, bis er außer Hörweite war. Dann begann er, nach einem geeigneten Stein und einem Werkzeug zu suchen. Es wurde Zeit, dass er sich an die Arbeit machte. Bald tönte ein gleichmäßiges Klopfen durch die Nacht.
Die Tage flogen dahin, jede Nacht wiederholte sich das Spiel: Der Mann schlief ein und der Junge verließ die Finca, um sich an sein geheimnisvolles Nachtwerk zu machen. Dann kehrte er zurück und kettete sich eigenhändig wieder an. An Flucht schien er nicht zu denken.
Nach einer Woche kam der letzte Tag. Der Morgen brach an, die ersten Zikaden zirpten zaghaft. Der Junge ging feierlich mit seinen nackten Füßen durch die taufeuchte Steppe im Garten. Er lief immer wieder im Kreis. Um vier Pfähle herum, in deren Mitte der weiße Teufel lag, mit Händen und Füßen je an einen Pfahl gefesselt. Als Alejandro Gomez erwachte, sah er vor sich seinen Gefangenen stehen. Doch der stille, gepeinigte Junge war einem hoch aufgerichteten Azteken in voller Kriegsbemalung gewichen. Die kunstvollen Zeichen auf der olivbraunen Haut des Jungen hatten die Farbe des mallorquinischen Tons und ein Federschmuck aus zurechtgestutzten Schilfrohren thronte auf seinem Kopf. Der alte Seefahrer schaute mit dröhnendem Schädel in den Himmel und blinzelte müde in die Sonne. Er versuchte aufzustehen, dann erst bemerkte er, dass er gefesselt war, und bäumte sich auf. Er begann, gotteslästerlich zu fluchen. Und beschimpfte den jungen Azteken. Der wiederum stand ruhig vor ihm und beobachtete ihn zufrieden. Gomez verstand nicht, wie er hierher kam, dann erinnerte er sich an das Essen am Vorabend. Da war ein bitterer Nachgeschmack in der Suppe. Der räudige Köter hatte ihn betäubt! Wieder begann er zu brüllen und riss an seinen Fesseln. Als den alten Mann langsam die Kraft vor lauter Toben verließ, begann der Azteke leise in fast akzentfreiem Spanisch zu sprechen. Der alte Mann riss die Augen verblüfft auf. Er hatte den Indio für zu dumm gehalten, die Sprache zu lernen. Langsam dämmerte ihm, dass er die Intelligenz des Jungen unterschätzt hatte. „Du hast den göttlichen Herrscher getötet, obwohl er dir in einem ehrenhaften Handel, seinen erstgeborenen Sohn gab.“ Der Azteke ging langsam um ihn herum. Der alte Mann war verstört von dessen Verwandlung, nicht nur durch die Äußerlichkeiten – der stoische, unbewegte und hilflose Junge, der sich immer nur duckte und in sich zusammengekauert auf dem Boden lag, war verschwunden. Vor dem alten Mann stand jetzt kein gebrochener Gefangener mehr, sondern ein junger Azteken-Prinz mit stolzer Haltung, aufrechtem Gang und hochmütigen Blick.
„Das war ich nicht, sagte er leise. Cortés hat deinen Vater, euren Herrscher Moctezuma ermordet.“ Aber schon als der alte Mann es aussprach, wusste er, dass dieses Argument nichts bringen würde. Der Azteke spuckte ihm ins Gesicht. „Schweig, Mörder meines Volkes. Ihr habt Vater getötet und den Handel gebrochen. Millionen Leben vernichtet. Unser Volk wird sich davon nie wieder erholen.“ Es wird Quetzalcoátl milde stimmen, wenn ich ihm einen weißen Teufel als Opfer bringe. Das könnte den Mexica den Weg zurück zu alter Größe verhelfen. Er kniete neben dem alten Mann nieder und zischte hasserfüllt: „Und es bringt mir Frieden. Und meiner armen Schwester, deren Schreie heute noch in meinen Ohren klingen.“ Der Blick des alten Mannes fiel auf die Hand des Azteken. Er fing an zu zittern, als er dort die Steinklinge erblickte. „Sieben Tage habe ich gebraucht, um das Maquahuitl anzufertigen“, sagte der junge Mann und strich schon fast zärtlich über die Klinge des steinernen Kurzschwertes. Dann setzte er die Klinge auf dem Bauch des alten Mannes an und begann mit langen Schnitten die Haut am ganzen Körper aufzuschlitzen. Dann strich er Honig über die Wunden und ging ins Haus, um die Sonne und die Ameisen ihre Arbeit erledigen zu lassen. Die Schreie des alten Mannes verstummten erst gegen Abend.
Als der Junge wieder nach draußen in den kühlen Abend trat, hatte sich die Haut des Mannes am ganzen Körper gelöst und auf dem Boden lag nur noch ein wimmerndes, blutiges Bündel, das kaum noch als Mensch zu erkennen war. Als der Junge mit wenigen gezielten Schnitten sein grausiges Werk vollendet hatte, verlor der alte Mann gnädigerweise erneut das Bewusstsein. Der junge Azteke hielt auf einmal ein Sitzpolster eines Hockers in der Hand und hielt es über den Mann, als wolle er Maß nehmen. Dann schleppte er seinen halbtoten Peiniger ins Innere der Finca und machte sich an die Arbeit. Einmal kam er noch aus dem Haus, um einen Holzeimer nach drinnen zu holen. Dann ertöne noch einmal ein unmenschlich klingender, schriller Schrei aus dem Mund des alten Seefahrers, der abrupt abbrach. Dann lag gespenstische Stille über der Finca.
Am nächsten Morgen kam der junge Azteken-Prinz blutbeschmiert aus der Finca und zog einen tropfenden Leinensack hinter sich her. Er ging auf die Knie, zog die vier Pfähle heraus und vergrub an Stelle der Pfähle etwas aus dem Sack an seiner Seite. Dann warf er den bluttriefenden Sack auf die Seite, nahm einige Olivenkerne in die Hand und drückte diese tief in die Erde. Der Azteken-Prinz ging an die Tränke Wasser holen und begann sich zu waschen. Dann trug er mit den Händen Wasser zu den vergrabenen Kernen und begoss sie damit. Währenddessen sang er leise in seiner Sprache ein Klagelied, für seine Schwester, seinen Vater und sein ganzes Volk.
Nach der Waschung stellte er in stundenlanger Kleinarbeit seine Kriegsbemalung wieder her und setzte seinen improvisierten Federschmuck auf. Er begann einen lauten, aber melodischen aztekischen Kriegsgesang zu intonieren. Mit langsamen, würdevollen Schritten ging er durch die Landschaft, bis er schließlich an einer der Steilklippen des Torrente de Caja Pila ankam. Er verharrte kurz, schaute hinab auf den schmalen Strand unter ihm. Ließ den Blick ein letztes Mal über das türkisblaue Meer in der Bucht hinaus auf die dunkelblauen Wellen schweifen, dann schloss er die Augen und breitete die Arme aus. Die Brandung unter ihm rauschte gleichmäßig. Ein paar Vögel zwitscherten vor sich hin und die Sonne ließ ihm wie zum Abschied wärmend ein paar Sonnenstrahlen über seine Wangen streichen. Tiefer Friede erfüllte ihn. Leise sagte der Prinz: „Vater, ich komme!“, dann trat er einen Schritt über den Abgrund hinaus und übergab seinen Körper den Tiefen des Meeres.
1. Renners Restaurant
Restaurant Marcos. Am Turm von Cala Pi
25. März 2017, am frühen Morgen
Renner schloss die Augen, lauschte dem Meer und während die Sonnenstrahlen die Kälte aus seinem Herzen vertrieben, trugen die Wellen Leichen, Blut und Gewalt davon. Jeder Tag auf der Insel entfernte ihn weiter von seinem früheren Leben. Eigentlich könnte der ehemalige Kriminalbeamte glücklich sein. Er stand in einer fließenden, federnden Bewegung auf, streckte seinen großen, massiven Körper und schaute noch eine Sekunde zur Sonne, die vor ihm am Horizont stand. Dann drehte er sich seufzend um und verließ die Steilklippen. Inselparadies hin, Inselparadies her. Er hätte einfach zu Hause in Wiesbaden bleiben sollen, seinen frühzeitigen Ruhestand hätte er sich auch anders vermiesen können, als mit einer Kneipe in einer Bruchbude in Cala Pi. Pardon,