Die Transformationskraft von Übersetzungen, um die es diesem Band geht, hat viel mit Differenzen zwischen Sprachen und dem Fehlen von Äquivalenz zu tun, die u.a. von Walter Benjamin in seinem Aufsatz „Die Aufgabe des Übersetzers“ (1923) beschrieben wurde. Sprachen sind im kulturellen Imaginären verortet und historisch gewachsen; sie bestehen aus kulturell spezifischen Konzepten, die auch im Laufe ihrer Geschichte Bedeutungen, Denotationen und Konnotationen erworben haben, die sich der vollständigen Übersetzbarkeit entziehen. Sie weisen spezifische grammatikalische Strukturen, konkrete Klänge und Rhythmen auf, die, wie es Christine Ivanovic in ihrem Beitrag zum Band formuliert, „sinnlich-sinnlos“ bleiben. Die ästhetische Verdichtung fiktionaler Literatur steigert notwendigerweise die Offenheit und Unbestimmtheit von Sprache. Literarische Formen führen semantische Mehrdeutigkeiten ein, die schon das sogenannte Original bzw. den Ausgangstext mit Überschuss, Irritation und Instabilität versehen und die jede Lektüre zu einem vorläufigen und subjektiven Akt der Bedeutungskonstitution werden lassen. „[A]lle Übersetzung“, schreibt Benjamin (1977: 55), ist „nur eine irgendwie vorläufige Art […], sich mit der Fremdheit der Sprachen auseinanderzusetzen.“ Annäherung, Ähnlichkeiten, Äquivalenz ‚ohne Identität‘ (vgl. Ricœur 2004) sowie ‚Wirkungsäquivalenz‘5 sind daher einige der Begriffe, die in der Übersetzungstheorie die Diskussion um das angemessene Verhältnis zwischen Ausgangs- und Zieltext prägen. Sie unterstreichen, dass Übersetzungen stets auch Interpretationen sind, die auf subjektiven Lektüren gründen (vgl. Spivak 2009: 205) – die Translation Studies sprechen sogar von einer Neuschaffung bzw. einem „Rewriting“ (Lefevere 1992; vgl. Bassnett 2014: 3).
Die besondere Herausforderung der Übersetzung besteht vielleicht gerade in diesem „quand même“ (Apter 2009: 86), nämlich in der Bereitschaft, sich auf die semantischen, ästhetischen und materiellen Partikularitäten eines Textes einzulassen, sie in einen relevanten Bezug zu einer anderen Sprache zu stellen6 – und dabei doch gleichzeitig zu wissen, dass man ihnen nur ansatzweise gerecht werden kann. Offenheit, Instabilität und Fremdheit innerhalb der sowie zwischen den Sprachen entbinden daher nicht von der Aufgabe der Übersetzung; vielmehr sind sie eine Ressource und ermöglichen, wie Benjamin darlegt, erst die Übersetzbarkeit von Literatur: Sie laden ein zur Verhandlung von Mehrdeutigkeiten, die gerade auch im Lichte historisch geprägter Wissensordnungen nach variablen Aktualisierungen verlangen. Jede neue Übersetzung ist daher Zeugnis für die Übersetzbarkeit des Ausgangstextes; paradoxerweise zeigt sie zugleich dessen Unübersetzbarkeit an, denn sie markiert Vorläufigkeit und weist ihrerseits auf kommende Übersetzungen voraus (vgl. Hermans 2014: 61). Erst solche ständigen übersetzerischen Neudeutungen sichern bekanntlich das ‚Fortleben‘ – und eben auch die potentielle Sichtbarkeit – des Ausgangstexts; sie schaffen zugleich mehrdimensionale Temporalitäten, die konventionelle Vorstellungen von Vorgängigkeit und Nachträglichkeit durchkreuzen.7 „[J]e ne crois pas que rien soit jamais intraduisible – ni d’ailleurs traduisible“, schreibt Jacques Derrida (2005: 19), und macht damit deutlich, dass das Unübersetzbare eben nicht das Gegenteil der Übersetzbarkeit bezeichnet, sondern es oftmals erst einen Raum für Interaktion, Verquickung und Verhandlung eröffnet. Ganz ähnlich betont Barbara Cassin, Initiatorin und Herausgeberin des groß angelegten Vocabulaire européen des philosophies: Dictionnaire des intraduisibles (2004), dass das Unübersetzbare nicht das ist, das nicht übersetzt werden kann. Vielmehr fordert es zu immer neuen Übersetzungen auf und verweist damit auf das Offene und Unfertige: „l’intraduisible, c’est plutôt ce qu’on ne cesse pas de (ne pas) traduire.“ (2004: xxvii) Die Unübersetzbarkeit wird dort zur Chance und felix culpa (vgl. Borsò 2006: 15), wo sie eine Anerkennung der Einzigartigkeit anderer Sprache möglich macht, ohne auf strikte Binäroppositionen und starre Grenzziehungen zwischen dem sogenannten ‚Eigenen‘ und ‚Anderen‘ zurückzufallen (vgl. Wetzel 2003: 154).
Die Offenheit und bisweilen sogar Unübersetzbarkeit von Sprache stellt Übersetzer:innen vor hermeneutische und sprachliche Entscheidungen, die bedeutungskonstitutiv sind und die Wahrnehmungsmöglichkeiten anderer historischer und kultureller Kontexte, auch hinsichtlich möglicher Gemeinschaftserfahrungen, maßgeblich prägen. Übersetzer:innen aktualisieren – auch auf der Grundlage subjektiver Deutungen, kulturhistorisch geprägter Wissensordnungen und Marktanforderungen – spezifische semantische, formale und materielle Potentialitäten des Ausgangstextes (vgl. Venuti 1995: 18). Aktualisierungen implizieren aber stets Ausschlüsse und Verwerfungen, auch wenn diese als latenter Überschuss bestehen bleiben. Die Forderung nach der Sichtbarkeit von Übersetzungen und Übersetzer:innen lässt sich auch aus dieser bedeutungs- und wahrnehmungsstiftenden Dimension ableiten: Sprache bildet keine vorgängige Realität ab; vielmehr ist sie eine Form der Welterschließung, die sinnstiftende Bezugnahmen auf die Welt ermöglicht. Sichtbarkeit, so die Prämisse des Bandes, ermöglicht ein Reflexivwerden jener sprachlichen Entscheidungsprozesse, welche die in überdeterminierten Texten angelegten Deutungsmuster in der Gegenwart präsent machen bzw. aktualisieren und das Spektrum kulturell möglicher Weltbezüge, eingeschlossen von Vergangenheitsdeutungen und Zukunftsvisionen, präfigurieren. Gerade auch aus dieser erinnerungsstiftenden Funktion von Übersetzungen, die zugleich Ermöglichungsbedingungen für Gegenwarts- und Zukunftsentwürfe sind, ergeben sich weitreichende ethische Fragen, die den Umgang mit sprachlicher Alterität betreffen. Sandra Berman (2005: 7) betont: „If we must translate in order to emancipate and preserve cultural pasts and to build linguistic bridges for present understandings and future thoughts, we must do so while attempting to respond ethically to each language’s contexts, intertexts, and intrinsic alterity.“ Übersetzungen, so Berman, antworten aus der Perspektive gegenwärtiger Bedingungen auf die Anforderungen anderer Texte, Sprachen und ihrer spezifischen Kontexte; sie bauen Brücken, die bei aller Fragilität doch intellektuellen Austausch, Transposition und Passagen ermöglichen (vgl. Bhabha 1994). Dass Antworten auf die Anforderungen und Anrufungen Anderer eine ethische Dimension haben, liegt auf der Hand. Für Arvi Sepp (2017: 63) beinhaltet die übersetzerische Antwort daher zugleich einen Akt der Verantwortungsübernahme: Die Übersetzung „übernimmt Verantwortung, indem sie die Ansprache durch den Anderen beantwortet.“ Sie übernimmt aber auch Verantwortung, indem sie die Ermöglichungsbedingungen und Voraussetzungen offenlegt, die dieser Antwort zugrunde liegen – und es ist diese Offenlegung, die Leser:innen die Möglichkeit bietet, entsprechende Entscheidungen mitzutragen oder sie zu hinterfragen.
2 Übersetzung im Zeichen des Cultural Turn
Kulturtheoretisch und -wissenschaftlich ausgerichtete Ansätze deuten die bei Übersetzungen zur Verhandlung stehende sprachliche Differenz bekanntlich metonymisch, nämlich als Evokation kultureller Alterität im Geflecht eines hierarchischen Verhältnisses zwischen unterschiedlichen Sprachen und Kulturen (vgl. z.B. Bassnett/Trivedi 1999; Bachmann-Medick 2006; Bandia 2008). Übersetzungen, so Sandra Richter, bilden Knotenpunkte des „Literaturkontaktes“ (2017: 23) und des Kulturtransfers. Der Übersetzungsprozess stellt sich dementsprechend als interkultureller Akt der Kommunikation dar, der nach Formen der „thick translation“ (Appiah 1993), also kultur- und kontextsensitiven Deutungen verlangt. Dabei geht es um eine sprachlich vermittelte Annäherung an kulturelle Alterität, die – und das ist eine der Aporien der Übersetzung – erst in der Relation zu einer als eigen gesetzten Sprache und entsprechenden Wissensordnungen Kontur gewinnt (vgl. Neumann 2020). Kategorien wie kulturelle Differenz, Fremdheit und Eigenheit, Repräsentation und Transformation verdrängen oder überlagern damit das Interesse an sprachlicher Äquivalenz und sensibilisieren für die Machtrelationen, die Übersetzungen zugrunde