Die Einstellung zu Psychopharmaka ist bei jeder PsychotherapeutIn individuell verschieden und sie entwickelt sich auch während ihrer Praxis, abhängig vom Arbeitskontext und der Auswahl der PatientInnen. Für eine TherapeutIn ist es wichtig, sich bewusst zu machen, welche Beziehung sie zu einem bestimmten Medikament einer PatientIn hat. Sie kann folgendes Experiment versuchen: Sie setzt das Medikament auf einen leeren Stuhl und spricht zu ihm. So kann sie z. B. sagen: »Medikament, ich bin froh, dass wir einander gut ergänzen. Dank deiner Hilfe muss ich mir weniger Sorgen um den Patienten machen.« Oder sie kann sagen: »Medikament, ich mag dich nicht, weil du meine Therapie störst. Der Patient ist abhängig von dir geworden und ich würde dich wirklich gerne aus der Therapie raus haben. Aber das kann ich nicht, weil der Patient dich will. Ich fühle mich machtlos, du machst mich wütend. Er mag dich lieber als mich. Dank dir macht der Patient Fortschritte.« Vielleicht merkt die TherapeutIn, dass sie nichts über das Medikament weiß, dass sie mehr Informationen über seine Merkmale braucht, darüber lernen muss und dann ihre Beziehung zu ihm weiter erforschen kann.
Die TherapeutIn muss auch ihre Beziehung zu Medikamenten im Allgemeinen untersuchen. So kann sie z. B. von einem Introjekt bestimmt werden: »Der Beweis für eine gute Psychotherapie ist, dass die PatientIn keine Medikamente braucht.« Sie kann den Eindruck haben, dass das Medikament ihre Arbeit und sie selbst in ihrer therapeutischen Rolle entwertet. »Wenn eine PatientIn Medikamente nehmen muss, bedeutet das, dass ich als TherapeutIn nicht gut genug für sie bin.« Solch ein konkurrenzbetonter Ansatz bei der TherapeutIn wird sich notwendigerweise auch auf den therapeutischen Prozess auswirken.
Wenn eine TherapeutIn ihre Beziehung zu Medikamenten erforscht, wird wahrscheinlich die Frage nach ihrer Haltung zum medizinischen Versorgungssystem, zu Diagnosen und zu PsychiaterInnen aufkommen. Die TherapeutIn muss sich bewusst machen, wie ihre Einstellung zu diesen Themen ihre Arbeit mit einer bestimmten PatientIn beeinflusst. Sonst besteht das Risiko, dass sie ihren Ansatz (missbilligend oder bewundernd oder abhängig usw.) auf das medizinische Versorgungssystem oder das Medikament projiziert, das eine PatientIn nimmt. Die TherapeutIn muss ihrer PatientIn nichts über ihre Haltung erzählen, aber es ist notwendig, dass sie sich bewusst ist, auf welche Weise diese Haltung die therapeutischen Interventionen und die gesamte therapeutische Situation beeinflusst. Es kann nützlich für die TherapeutIn sein, sich bestimmte Fragen zu stellen: Welche Ansichten habe ich zu Psychopharmaka und zum psychiatrischen System insgesamt? Habe ich oder jemand, der mir nahesteht, persönliche Erfahrungen mit Psychopharmaka? Wie sieht diese Erfahrung aus und wie beeinflusst sie meine Haltung zu Psychopharmaka? Die Antworten auf diese Fragen bilden das Vorverständnis der TherapeutIn, sie müssen ins Bewusstsein geholt und ausgeklammert werden, damit sie nicht den natürlichen Fluss des Kontakts mit der PatientIn blockieren.
5. Medikamente als Unterstützung auf der Reise
Es hat sich für uns als nützlich erwiesen, die Einnahme von Medikamenten in einer Psychotherapie durch eine Metapher zu beschreiben. Dabei sollte jede TherapeutIn ihre eigenen Metaphern finden, die als kognitive Landkarten dienen. Eine TherapeutIn kann sich z. B. vorstellen, dass die Medikamente die Funktion einer Jacke im Winter haben. Manche Menschen brauchen nur eine dünne Jacke, andere brauchen eine viel dickere und manche gar keine. Manche Menschen können den Winter ohne eine Jacke nicht überleben, für andere wiederum reicht es, sich eine Jacke um die Hüften zu binden und sie dabeizuhaben.
Wir möchten unseren LeserInnen gerne noch von einer weiteren Metapher erzählen, die uns in unserer Praxis dient. Es ist eine Metapher, in der die Psychotherapie als eine Reise beschrieben wird: Die PatientIn ist auf dem Weg und die TherapeutIn begleitet sie. Wenn die Beine der PatientIn sie nicht gut tragen können, braucht sie Krücken. Diese Rolle übernehmen die Medikamente. So kann zum Beispiel ein Antidepressivum einen Menschen in einer tiefen Depression aufrichten, so dass er weiter nach dem Weg suchen kann. Die Medikamente zeigen nicht den Weg, aber sie erleichtern das Gehen, während man danach sucht. Dies ist eine mögliche Betrachtungsweise der Kombination von Psychopharmaka und Psychotherapie. Medikamente können der PatientIn als Krücke dienen und Psychotherapie als eine Heilgymnastik.10
Eine Krücke kann einen Menschen, der unfähig ist, ohne Hilfe von außen zu gehen, als behindert kennzeichnen. Wir können die Krücken auch als etwas ansehen, was dem Menschen hilft, sein Bewegungspotenzial auszuschöpfen. Hier zeigt sich eine wichtige Verschiebung von Gedanken: Die Krücke bedeutet nicht nur, dass die PatientIn behindert ist, dass die PatientIn hinkt, sondern auch, dass ihre Möglichkeiten mit Krücke größer sind als ohne. Die Krücke ermöglicht es der PatientIn, ihr Potenzial zu nutzen – sie kann arbeiten gehen, shoppen gehen usw. Wenn die PsychotherapeutIn nicht mit den Medikamenten konkurrieren will, muss sie zu dieser Art der Verschiebung von Gedanken in der Lage sein und Medikamente als Unterstützung von außen betrachten, die es der PatientIn ermöglichen, ihr Potenzial umzusetzen, was ohne die Krücke nicht möglich wäre.
Ähnlich verhält es sich mit anderen Arten der Unterstützung. Wenn eine PatientIn nicht genügend Selbstunterstützung hat, braucht sie Unterstützung von außen. Dies trifft nicht nur auf Medikamente zu, sondern auch auf einen strukturierteren und aktiveren Ansatz durch die TherapeutIn. Zu Beginn der Therapie braucht die PatientIn üblicherweise mehr Unterstützung von außen. Dann baut sie langsam ein größeres Vertrauen in ihre eigenen Ressourcen auf, um die äußeren Unterstützungsquellen auszugleichen. Besonders zu Beginn des psychotherapeutischen Prozesses können Medikamente eine wichtige stabilisierende Rolle in Fällen schwerer psychischer Probleme spielen. Dank ihrer biologischen Wirkung können sie die eigenen Kompetenzen der PatientIn stärken und das eigene Potenzial aktivieren. So können z. B. Antidepressiva einer depressiven PatientIn dabei helfen, Energie zu mobilisieren, aus der Isolation zu kommen und Beziehungen aufzubauen. Manchmal ist es dann möglich, die Medikation schrittweise zu reduzieren oder abzusetzen, doch die Kompetenz der PatientIn bleibt, wenn sie in der Psychotherapie integriert und gestärkt worden ist. Im Zuge der Psychotherapie ist es wichtig, dass die PatientIn die Tatsache akzeptieren kann, dass das Medikament ihr nichts Zusätzliches und Neues gibt, sondern dass es ihr dabei hilft, ihr eigenes Potenzial zu wecken.11
Die TherapeutIn und die PatientIn werden sich also nicht nur der Rolle bewusst, die die Medikamente im Leben der PatientIn und im psychotherapeutischen Prozess spielen, sondern sie entdecken auch die neuen Möglichkeiten, die sie für das Leben bringen, und welche Optionen sie in der psychotherapeutischen Arbeit erschließen. Die PatientIn erlebt zum Beispiel eine intensive Angst vor ihren eigenen aggressiven Tendenzen. Diese Angst lähmt sie so sehr, dass sie auch in der Therapie nicht fähig ist, darüber zu sprechen. Die einzige Möglichkeit, mit der Angst umzugehen, sind zwanghafte Rituale. Die Medikamente mildern die Angst, reduzieren sie, so dass sie nicht mehr den gesamten Horizont der PatientIn blockiert. Abgesehen von der Angst kann die PatientIn jetzt auch eine unterstützende TherapeutIn sehen, die ihr gegenübersitzt und zuhört.
Wir können Psychotherapie als Heilgymnastik betrachten. Wenn die PatientIn sich nur auf die Krücke stützt und keine Heilgymnastik macht, bereitet sie sich nicht darauf vor, ohne die Krücke zu gehen, muss sich auf sie verlassen und bleibt vielleicht behindert. Oder die PatientIn legt die Krücke nach einer Zeit weg, in der sie keine Heilgymnastik gemacht hat, hat dann aber größere Probleme mit dem Gehen, als sie mit angemessener Vorbereitung und Heilgymnastik gehabt hätte. Dank der Heilgymnastik kann die PatientIn ihren Körper neu kennen lernen, kann lernen, wie sie ihn gut behandelt, entwickelt vielleicht neue motorische Fähigkeiten und eine neue Beziehung zu ihrem Körper.
Die PatientIn kann zum Beispiel eine Depression nur mit Medikamenten bewältigen. Wenn sie zusätzlich dazu in einer Psychotherapie arbeitet, bewältigt sie nicht nur die aktuellen Probleme, die mit der Depression in Verbindung stehen. Dank der Psychotherapie erweitert sie das Spektrum ihrer Fähigkeiten. Sie lernt, die Warnzeichen einer drohenden Depression zu erkennen und damit umzugehen, sie lernt, sich Unterstützung von außen und von sich selbst zu holen und sie wird vielleicht die existenzielle Botschaft hören, die sich in ihrem depressiven Erleben verbirgt.
Als GestalttherapeutInnen konzentrieren wir uns in der Arbeit mit unseren PatientInnen darauf, das Spektrum der Fähigkeiten mittels Psychotherapie zu erweitern, auf dieselbe Weise