Aus der Perspektive der TherapeutIn ist die diagnostische Evaluation sehr wichtig, ob der Effekt der Medikamente eher mit der Funktion einer permanenten Prothese oder einer vorübergehenden Krücke verglichen werden kann.12 Eine realistische Einschätzung ermöglicht es, die Medikamente zu akzeptieren, und befreit die TherapeutIn von überzogenen Ansprüchen ihrer selbst und der PatientIn. Wenn die TherapeutIn mit dem Medikament einverstanden ist, hilft sie der PatientIn dabei, sich mit der Medikation auszusöhnen. Im Geiste der paradoxen Theorie der Veränderung eröffnet sich dadurch ein Raum für neue Möglichkeiten. Wenn die TherapeutIn hohe Ansprüche stellt (»Die Therapie soll dazu führen, dass keine Medikamente mehr gebraucht werden«), würde sie sich selbst bei Therapien mit PatientInnen mit schwereren psychiatrischen Problemen einschränken und vielleicht sogar einem therapeutischen Nihilismus erliegen und sagen, dass eine Psychotherapie für diese PatientInnen nicht von Nutzen ist.
Ein typisches Beispiel können PatientInnen in einem akuten psychotischen Zustand sein. Ihr Erleben ihrer selbst ist nicht ausreichend von der Umwelt abgegrenzt (Spagnuolo Lobb 2003a). Menschen in dieser Situation werden mit einer großen Menge an Informationen überladen und sind dadurch unfähig, externe Informationen von ihrer eigenen psychischen Schöpfung zu differenzieren. Die Medikamente (Antipsychotika) reduzieren die Menge an Informationen (indem sie Dopamin reduzieren, das die Informationen überträgt), reduzieren die Überladung und helfen der PatientIn, die Informationen zu organisieren.
Die Psychotherapie hat bei der Behandlung solcher schwer psychisch kranken PatientInnen eine wichtige Aufgabe. Wenn wir zu unserer Metapher zurückkehren, können wir sagen, dass auch ein Mensch mit einer Prothese von Heilgymnastik profitiert. Aufgrund der Prothese kann der restliche Körper nicht normal funktionieren, die Prothese schafft falsche Proportionen im Körper, andere Muskelgruppen werden belastet. Die Heilgymnastik kann diese Deformation und die Auswirkungen des Ungleichgewichts zumindest teilweise korrigieren und die verbleibenden Gliedmaßen länger funktionsfähig erhalten. Bei PatientInnen mit chronischer Schizophrenie ergänzt die TherapeutIn zum Beispiel die Behandlung mit Antipsychotika, indem sie mit dem Hintergrund des Erlebens der PatientIn arbeitet (der das Entstehen einer Figur ermöglicht), bemüht sich, Zeit und Raum als rhythmische Faktoren wahrzunehmen, und hilft der PatientIn mit einer ausgeglichenen Bestimmung ihrer selbst, einschließlich der Wahrnehmung der eigenen Bedürfnisse (Spagnuolo Lobb 2003a, siehe mehr in Kapitel 20).
Jane ist die 35-jährige Mutter zweier kleiner Kinder. Sie hat kürzlich ihre Arbeit wieder aufgenommen, als ihr Mutterschaftsurlaub beendet war. Sie hat einen anspruchsvollen Beruf als Assistentin, in dem sie mit vielen KollegInnen und KundInnen zu tun hat und oft mit Konfliktsituationen umgehen muss. Sie wird für ihre Verlässlichkeit und ihr Verantwortungsgefühl geschätzt, aber sie ist oft im Krankenstand, weil sie Probleme mit ihrem Rücken hat. Keine ihrer KollegInnen ahnt, dass diese Probleme das Resultat ihres Suizidversuchs sind, bei dem sie vom Dach eines Hauses gesprungen ist und nach dem sie in der Psychiatrie untergebracht wurde. Jane befindet sich seit 13 Jahren wegen ihrer Psychose in Behandlung, und bis jetzt ist sie vier Mal in einem akuten psychotischen Zustand ins Krankenhaus eingeliefert worden, in dem ihre Wahrnehmung der Umwelt und ihr Verhalten durch paranoide Wahnvorstellungen verändert war. Sie fühlt sich, als sei sie die Auserwählte, die unseren Planeten vor der Zerstörung retten soll. Sie nimmt seit 13 Jahren Antipsychotika, manchmal zusammen mit Antidepressiva und Anxiolytika. Sie macht eine Einzel- und eine Gruppentherapie. Sie hat zwei Mal versucht, die Medikamente wegen Nebenwirkungen und einer Schwangerschaft abzusetzen, aber es ging ihr dabei so schlecht, dass sie ins Krankenhaus musste. Sie hat sich daran gewöhnt, Zyprexa zu nehmen, obwohl sie sich anschließend müde fühlt, einen größeren Appetit hat und sich emotional verflacht fühlt. Vor Kurzem war sie überlastet, erschöpft von anhaltendem Stress. Sie hatte wieder das Gefühl, dass ihre KollegInnen hinter ihrem Rücken über sie redeten, und sie konstruierte komplexe Verschwörungstheorien. Sie musste die Dosis erhöhen. Die Psychotherapie half ihr, die Situation klar zu sehen, und sie hat sich entschieden, in Teilinvalidenrente zu gehen, für die sie lange gekämpft hat. Jetzt ist sie froh, da sie kürzere Arbeitszeiten haben und besser für den Haushalt und ihre Kinder sorgen können wird, wobei ihr Ehemann eine große Hilfe ist.
Die Situation kann im Fall einer bipolaren Störung komplexer sein, da die PatientIn nach einer manischen oder depressiven Episode annehmen kann, dass sie die Medikamente nicht mehr braucht. Außerdem können diese PatientInnen denken, dass der verschriebene Stimmungsstabilisator ihr Gefühlsleben verflachen lässt und sie daran hindert, sich selbst und ihre Beziehungen mit anderen Menschen voll zu erleben. Das Absetzen von Stimmungsstabilisatoren wird jedoch höchstwahrscheinlich zu einer Dekompensation führen, zu einer manischen oder depressiven Episode, die durch das Medikament zumindest hinausgezögert oder abgeschwächt hätte werden können. Die Aufgabe der Therapie ist in diesem Fall, der PatientIn dabei zu helfen, sich der Einschränkungen durch die Störung und die Psychopharmaka bewusst zu werden und diese zu akzeptieren.
Eine ähnliche Situation kann bei PatientInnen auftreten, die an einer rezidivierenden depressiven Störung leiden und die in ihrer Krankengeschichte immer wieder schwere depressive Phasen erlebt haben, besonders in Verbindung mit den Jahreszeiten und ohne Impuls von außen. Man muss sich in Erinnerung rufen, dass hier Antidepressiva als Prothese für die PatientIn dienen, obwohl es zwischen den einzelnen depressiven Phasen scheinen kann, als sei sie nicht nötig.
Die PatientIn kann an den Nebenwirkungen der Medikamente leiden (Einschränkung, Verlangsamung, emotionale Verflachung, Übergewicht, körperliche Steifheit), was dann zu Isolation und zur Stigmatisierung der PatientIn führen kann. Gleichzeitig kann die PatientIn die Medikamente nicht absetzen, ohne eine erhebliche Verschlimmerung ihres psychischen Zustands zu riskieren. Die TherapeutIn versteht die Probleme, die die Medikamente der PatientIn verursachen, und sieht auch realistische Gründe für die Notwendigkeit ihres Gebrauchs. Die TherapeutIn akzeptiert die Medikamente als Einschränkung, die die Möglichkeiten der kreativen Anpassung im Leben der PatientIn und in der psychotherapeutischen Arbeit selbst reduzieren. Die TherapeutIn arbeitet mit der Medikation in dem Wissen, dass sie eine unvermeidliche Einschränkung für die Therapie darstellt, so wie die Psychotherapie mit anderen Einschränkungen arbeitet (z. B. nicht unterstützender Hintergrund, eingeschränkte finanzielle Mittel oder niedrige intellektuelle Kapazität). Die TherapeutIn passt den therapeutischen Stil daran an und hilft der PatientIn, sich der Einschränkungen in ihrem Leben und in der therapeutischen Beziehung bewusst zu werden. Die TherapeutIn hilft der PatientIn dabei, die Einschränkung zu akzeptieren und abgesehen davon die vorhandenen Fähigkeiten zu entdecken und zu entwickeln.
6. Schlussfolgerung
Die Nützlichkeit einer begründeten Kombination von Psychotherapie und medikamentöser Behandlung wird von der Erforschung genetischer und biologischer Auswirkungen von Psychotherapie bestätigt, die über die über dualistische Trennung von Körper und Geist hinausgeht (Wright / Hollifield 2006). Williams und Levitt (2007) kommen in ihren Forschungen ebenfalls zu diesem ganzheitlichen Ansatz und verabschieden sich von der »Biologie versus Psychologie«-Dichotomie. Der Schlüsselbegriff ist für sie die »agency« der PatientIn, d. h. die Fähigkeit, aktiv am psychotherapeutischen Prozess teilzunehmen und eigene Entscheidungen im Leben zu treffen. Die Psychotherapie hilft den PatientInnen, ihre Fähigkeit zur Mobilisierung dieser »agency« zu steigern und die Interventionen der TherapeutIn für die Selbstheilung zu nutzen. Medikamentöse Unterstützung ist sinnvoll, wenn sie der PatientIn hilft, ihre »agency« zu steigern und am psychotherapeutischen Prozess teilzunehmen (z. B. wenn sich die Stimmung der PatientIn dank der Medikamente stabilisiert und ihre Fähigkeit zu Reflexion steigt). Andererseits sind die Medikamente nicht nützlich, wenn sie die »agency« der PatientIn verringern (Williams / Levitt 2007). Als GestalttherapeutInnen wollen wir hinzufügen, dass die Medikamente auch dann sinnvoll sind, wenn sie den Kontakt zwischen PatientIn und TherapeutIn erleichtern.
Medikamente können im psychotherapeutischen Prozess nützlich sein, wenn sie – als eine der Unterstützungsquellen – helfen, das lähmende Ausmaß der Angst zu reduzieren (siehe auch Kapitel 2). Die Energie, die ursprünglich in exzessiver Angst gefangen ist, ist dann für die PatientIn als »Erregung« verfügbar, was einen spontanen und bedeutungsvollen Kontakt mit der Umwelt