Im ersten Abschnitt dieses Kapitels behandle und kritisiere ich die »Forschungspolitik«, um das notwendige Verständnis für die Themen, um die es geht, zu vermitteln und GestalttherapeutInnen dafür zu rüsten, den »neuen« Status quo so infrage zu stellen, wie unsere Gründer es mit dem »alten« Status quo vor 60 Jahren getan haben.
PsychotherapeutInnen werden zunehmend dazu angehalten, Forschung zu betreiben. Wir werden gedrängt, die Effektivität unserer Arbeit unter Beweis zu stellen und evidenzbasierte Praxis heranzuziehen, um die Qualität unserer Dienste zu verbessern (Rowland / Goss 2000). Aber welche Evidenz kann den Wert der Arbeit, die wir leisten, am besten zeigen? Auf welche Evidenz sollen sich KlientInnen und die Geldgeber, die das Gesundheitssystem finanzieren, am besten verlassen?
Es hängt viel davon ab, wie »Evidenz« definiert wird. Nach der herrschenden Sicht der Bewegung, die sich für eine evidenzbasierte Praxis einsetzt, sollte Evidenz »wissenschaftlich« sein und mit Messwerten und Quantifizierungen aufwarten. Ich bin schon so mancher GestalttherapeutIn begegnet, die sich sorgte, dass es qualitativen Methoden an wissenschaftlicher Glaubwürdigkeit fehlen könnte, und die den Glauben an die Effektivität einer Forschung mit Menschen anstatt über Menschen verloren hatte. Aber wie relevant sind die quantitativen Ansätze, wenn es um Psychotherapie geht? Wie kann quantifiziert werden, ob eine PsychotherapeutIn die Ambivalenz der menschlichen Erfahrung versteht? Ist es möglich, die komplexe, sich immer entwickelnde, vielschichtige Natur therapeutischer Beziehungen und der Arbeit, die wir leisten, zu messen?
Es ist zwar eminent wichtig, die Praxis durch Evidenz zu unterstützen, doch es ist auch notwendig, sowohl herrschende Meinungen darüber, was die »beste« Evidenz ausmacht, als auch die Überbetonung der quantitativen Evidenz infrage zu stellen, bei der die Verwendung randomisierter kontrollierter Studien als der »Goldene Standard« hochgehalten wird.
2. Diskussion der Natur der Evidenz
Großbritannien, genauer gesagt das National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE), empfiehlt z. B. in seinem Leitfaden für die Behandlung von Depressionen die Anwendung von geleiteten, auf der kognitiven Verhaltenstherapie basierenden Selbsthilfeprogrammen für PatientInnen mit leichter Depression. Für Patienten mit schwerer Depression rät es zu einer Kombination von kognitiver Verhaltenstherapie und Antidepressiva (NICE 2004/7).2
Das NICE stützte sich bei seiner Arbeit auf eine Hierarchie, die Evidenz nach ihrem vermeintlichen Wert klassifiziert und bewertet. An der Spitze der Hierarchie steht die Evidenz der Stufe A, die aus kontrollierten Experimenten und hier vor allem aus randomisierten kontrollierten Versuchen (randomized controlled trials, RCTs) gewonnen wird.3 Evidenz der Stufe B stammt aus sinnvoll konzipierten quantitativen Studien wie Untersuchungen und nicht-randomisierten Experimenten.4 Die Evidenz der Stufe C schließlich umfasst Expertenmeinungen, die auf Fallbeispielen und klinischen Beispielen basieren.
Diese Evidenzhierarchie weist beträchtliche Lücken auf. Die Meinungen der KlientInnen und BetreuerInnen fehlen ebenso wie die Ansichten der PsychotherapeutInnen selbst. Es gibt keinen Bezug zu »praxisbasierter Evidenz«. Qualitative Forschung – wohl die Evidenz, die in beziehungsorientierten Psychotherapien hauptsächlich verwendet wird – wird überhaupt nicht berücksichtigt. Themen, die mit dem Therapie-»Prozess« zu tun haben, werden zugunsten der »Resultate« gemieden. All dies deutet auf die Politisierung der Forschung hin. So wurden z. B. aufgrund der Empfehlungen des NICE zusätzliche staatliche Mittel zur Verfügung gestellt, um den Mangel an kognitiven VerhaltenstherapeutInnen zu beheben; für andere Formen der Psychotherapie wurden keine zusätzlichen Mittel bereitgestellt.
3. Im Fokus: RCTs
Wenn Sie die Wirksamkeit eines Medikaments testen wollten, würden Sie sich am ehesten für RCT-basierte Forschungen entscheiden. Schließlich kann man auf diese Weise die Wirkung eines Medikaments, das klare physische Effekte hat, unmittelbar messen und bewerten und die Ergebnisse mit Fällen vergleichen, in denen das Medikament nicht verabreicht worden ist. Die Frage ist, ob die Gestalttherapie mit ihren Schichten emotionaler und beziehungsbezogener Komplexität mit einer medikamentösen Behandlung gleichgesetzt werden kann.
Während RCTs bei der Messung von Veränderungen der physischen Gesundheit und des Verhaltens effektiv sind, sind sie weniger geeignet, Veränderungen in der Gefühlswelt und im subjektiven Wohlbefinden zu messen. Außerdem bilden RCTs nicht das wahre Leben ab, da sie geschaffen wurden, um die jeweilige Effizienz unter streng kontrollierten Bedingungen bei sorgfältig selektierten PatientInnen/KlientInnen zu messen. Langzeitbehandlungen werden in RCT-Studien nur selten untersucht, trotz der Tatsache, dass die Forschung auf erfolgreichere Ergebnisse bei Therapien hindeutet, die sich über längere Zeit erstrecken.
Kritiker des blinden Vertrauens in RCTs haben eine Reihe an potenziellen Schwachstellen in der Art aufgezeigt, wie experimentelle Forschung als einziges Mittel zur Prüfung von Therapieeffizienz verwendet wird. Wie sie aufzeigen, geht man bei der Verwendung von experimentellen Designs (einschließlich der RCTs) davon aus, dass die Probleme der Menschen klar abgegrenzt und verglichen werden können, und dass Techniken isoliert und in der erforderlichen »Dosis« angewandt werden können.
Mottram (2000) erklärt, dass die Bedingungen, die in RCTs zur Psychotherapie geschaffen werden, eine »erhebliche Abweichung von der gewöhnlichen psychotherapeutischen klinischen Praxis [Übers. a. J.]« darstellen (ebd., 1). Die Versuche befassen sich oft mit Erkrankungen, die in ihrer Reinform in der Praxis kaum – wenn überhaupt – existieren. RCTs neigen auch dazu, sich auf einzelne Probleme zu konzentrieren und die Tatsache zu ignorieren, dass die meisten KlientInnen mehr als ein klar definiertes »Hauptproblem« haben, für das sie sich in Psychotherapie begeben. Wie Westen, Novotny und Thompson-Brenner (2004) darlegen, stützt sich die RCT-Forschung zum Großteil auf das DSM Diagnosesystem – ungeachtet der Tatsache, dass nur ein kleiner Prozentsatz jener, die eine Therapie machen, dies tut, weil er eine bestimmte DSM-Diagnose hat. In den meisten Fällen brauchen die PatientInnen/KlientInnen Hilfe im alltäglichen Leben. Die Menschen bestimmten Gruppen von Erkrankungen zuzuordnen löscht die Besonderheit von individuellen Persönlichkeiten und verdeckt die feinen Anpassungen, die TherapeutInnen als Reaktion auf Unterschiede in der Persönlichkeit vornehmen. Ramsay (zitiert in Bovasso /Williams / Haroutune 1999) meint, dass wir mehr Forschung brauchen, die sich mit »freilaufenden Menschen« befasst – jene Menschen, die Therapeuten tatsächlich in ihren Praxen behandeln. »RCTs stellen KlientInnen typischerweise als passive EmpfängerInnen von standardisierten Behandlungen dar und nicht als aktive Partner und SelbstheilerInnen – Annahmen, die unseren Werten als beziehungsorientierten TherapeutInnen widersprechen« (Elliot 2001, 316 [Übers. a. J.]).
Eine der potenziell fehlerhaften Entwicklungen, die sich aus der Bewegung für eine evidenzbasierte Praxis ergibt, ist die Forderung, die Effektivität verschiedener psychotherapeutischer Behandlungen zu vergleichen. In der Welt der Psychotherapie hat sich der Ansatz, Evidenz zu finden, um eine Therapieform über die andere zu stellen, als wenig hilfreich erwiesen und führte sogar zu Spaltungen.
Überzeugende und umfangreiche Forschung, die sich über mehrere Jahre erstreckte, hat gezeigt, dass die Beziehungsdimensionen, die sich durch alle Therapieformen ziehen, wichtiger sind als bestimmte Techniken.
Im Jahr 1975 schlossen Luborsky, Singer und Luborsky eine Metaanalyse von