»Individuelle Gesundheit ist abhängig von der Gesundheit des größeren Felds.« (ebd., 27) Demnach »legt die Gestalttherapie nicht nur großen Wert auf die Unterstützung des Individuums, sondern auch auf die des Umwelt-Feldes« (ebd., 25). Er fährt fort: »Wir müssen ganze Lösungen finden, die sowohl das Individuum als auch die Umwelt unterstützen.« (ebd., 26) Als Anleitung für sozial-politische Reformer ist eine solche Forderung legitim. Doch wie weit ist das Feld unserer unmittelbaren klinischen Sorge für diese leidende PatientIn in diesem Moment in diesem Praxisraum?
Die Aufmerksamkeit für das soziale Feld eines Menschen ist einer der Einflüsse auf unsere Arbeit, da das Selbst seinen größeren Hintergrund umfasst – das soziale Feld, das phänomenale Feld oder das Organismus/Umwelt-Feld. Wird diese Aufmerksamkeit jedoch auf einen vagen Wert der »Feld-Verantwortung« oder auf eine persönliche Meinung über die »Gesundheit« des größeren Feldes ausgeweitet, geraten wir in eine unsichere Ethik des Inhalts, was Implikationen für unsere erfahrungsbezogene Methode hat. Meinungen über das Umwelt-Feld stellen eine ehrenwerte Ethik des Inhalts für soziale oder politische Reformen dar. Ihre spezifische klinische Relevanz für die grundlegende Ethik, die die Psychotherapie trägt, ist allerdings fraglich. Verschiedene politische Parteien haben unterschiedliche politische Agenden und jede hat ihre eigene Ethik des Inhalts. Es ist arrogant davon auszugehen, dass eine bestimmte Untergruppe wohlmeinender PsychotherapeutInnen die einzige Wahrheit besitzt.
Gemeinschaftswerte, sittliches Empfinden, Meinungen über das »Feld«, die Umwelt, Beziehungsverantwortung, sogar die Spiritualität verändern sich im Laufe der Zeit. Doch die Struktur der aktuellen Situation und unsere Arbeit an der Kontaktgrenze bleiben konstant. Sie sind der Leitstern unserer Praxis, während die Natur des Leidens unserer PatientInnen und unser klinisches Wissen sich nach und nach verändern.
Unser dezentriertes Subjekt der postmodernen Welt kämpft darum, einen ethischen Weg zu finden. Postmoderne Ethik ist sicher keine leichte Angelegenheit. In seinem Buch Postmodern Ethics schreibt Zygmunt Bauman: »Wenn ich nicht nach meiner Interpretation des Wohlergehens des/der Anderen handle, mache ich mich nicht einer sündhaften Gleichgültigkeit schuldig? Und wenn ich es tue, wie viel von ihrer/seiner Autonomie nehme ich weg? … Es gibt nur eine dünne Linie zwischen Fürsorge und Unterdrückung …« (Bauman 1993, 91 f.)
Die messerscharfe Klinge von Baumans dünner Linie kann nicht ignoriert werden. Wir dürfen nie vergessen, dass es einmal die wohlmeinende Praxisnorm war, Homosexuelle zu heilen und aggressive Frauen in passive Hausfrauen zu verwandeln. Heute sind wir weiser. Doch was wird man in hundert Jahren über unsere Weisheit sagen?
2.2 Praxisbezug: Situative Ethik und ein ethischer Kompass
Ein Kollege bat mich, eine Sitzung mit einer Frau abzuhalten und ihr nach Möglichkeit zu helfen, ihr Vertrauen in TherapeutInnen wiederzuerlangen. Nach der Sitzung mit mir würde sie auch andere TherapeutInnen aufsuchen. So wollte sie es. Sie hatte das Gefühl, dass es nicht sicher war, mehr als einmal zu jemandem zu gehen. Sie bat um männliche Therapeuten.
Sie hält den Blick gesenkt. Wenn sie spricht, ist es fast ein Flüstern.
»Ich habe ihn geliebt. Er war ein wundervoller Therapeut. Er war mein Therapeut, mein Lehrer und Supervisor. Er sagte, es sei okay. Es fühlte sich für uns beide richtig an. Wir haben darauf vertraut, was uns unsere Körper sagten. Sex war Teil der Therapie. Wir haben uns geliebt. In der Praxis. Ich musste mich in einer liebevollen erotischen Beziehung sicher fühlen. Ich erlebte Durchbrüche in der Therapie. Es war das erste Mal, dass ich Orgasmen hatte.
Dann habe ich herausgefunden, dass er mit allen von ihnen Sex hatte.«
Ihre Augen füllen sich mit Tränen.
Es beunruhigt mich, das zu hören, und ich verspüre den Impuls, Therapeuten im Allgemeinen ihr gegenüber zu verteidigen. (Sie muss ihn verführt haben, denke ich, sieh doch nur, wie sie aussieht …) Ich reiße mich zusammen und bemerke, dass ich mich von ihr weg bewege, ich entspanne meine Muskeln, und dann fühle ich mich traurig, berührt von ihrem Leid. Und sage:
»Alice, ich fühle mich traurig, wenn ich sehe, wie sich Ihre Augen mit Tränen füllen.«
Sie blickt langsam auf. »Warum? …« Und dann … plötzlich…: »Ich habe Angst, dass Sie mich anfassen wollen.«
»Nein«, sage ich. Ich merke, dass ich mich ihr unversehens zugeneigt hatte. Ich hole Luft, spüre, wie stabil sich mein Stuhl unter mir anfühlt, stabiler, als ich gedacht hätte. Ich spüre, wie ich mich zurechtsetze.
»Nein«, sage ich, ohne nachzudenken, und sage dann sanft: »Nein, das werde ich nicht.«
»Ich glaube Ihnen.« Unsere Blicke treffen sich.
»Ich will mehr darüber hören, wie es für Sie mit ihm war.«
Ihre Schultern zittern, als sie schluchzt. Sie blickt auf und spricht …
Der Rhythmus, in dem Alice und ich uns in der Sitzung vor und zurück bewegt haben – mit unseren Körpern, unseren Stimmen – entsteht, weil wir einander durch die Linse der situativen Ethik gesehen haben. Unsere »ethischen Augen« waren offen für ein Gefühl, dass »etwas falsch war« – das Gefühl eines gestörten ethischen Grundes, das für mich tiefergehender war als die einfache Frage eines moralischen »richtig« oder »falsch«, oder als die Grenzüberschreitung als Therapeut. Es war ein »Falsch«, das ich in ihren Augen sah, in ihrem Verhalten spürte und das ich selbst erlebte. Ich erlebte etwas, das mehr war als Empathie, mehr als mein starkes Gefühl für die Andere. Komplexer als Mitgefühl. Und genau das ist der Punkt.
Alice’ Geschichte hat mich aufgewühlt, nicht nur wegen meiner Empathie ihr gegenüber. Ich war aufgewühlt, weil ich mich auch mit dem Impuls ihres Therapeuten identifizieren konnte, und ich war berührt von der Vorstellung, was solch ein Impuls für die ethische Leitlinien und den ethischen Kodex bedeuten würde, die grundlegend für die Psychotherapie sind. Ich spürte die Spannungen in einem »ethischen Feld«.
Mein Mitgefühl für diese Patientin und ihren Therapeuten war auch ein Konflikt, für den ich offen war, weil ich »sehen« konnte, dass ethische Entscheidungen anstanden. Für einen Moment war ich in dem »Raum«, in dem ich ethische Empfindlichkeiten, Schwachstellen, Möglichkeiten und die Notwendigkeit »sehen« konnte, Entscheidungen zu treffen. Alice und ihr Therapeut hatten Alternativen – und ich hatte sie auch, als ich ihr zuhörte. Ich verweise noch einmal auf das Thema dieses Kapitels: Die situative Ethik ist die Struktur der Lebenswelt, die die Optik (in Lévinas’ Sinne) darstellt. Und sie ist die Struktur unserer Fähigkeit, uns überhaupt mit der Ethik zu befassen. Sie öffnet uns gegenüber gegenseitigen Schwachstellen bei ethischen Entscheidungen und gegenüber den Konsequenzen unserer Entscheidungen. Sie öffnet uns für das Mitgefühl.
Wenn die situative Ethik auch unser »Sehen« eines ethischen Dilemmas ist, so bietet sie doch keine Grundlage für eine »richtige« Wahl. Es handelt sich nicht um eine extrinsische Ethik des Inhalts, in deren Rahmen wir eine Wahl treffen können. Alle PsychotherapeutInnen sehen sich regelmäßig mit ethischen Dilemmata konfrontiert und müssen ethische Entscheidungen treffen, die die Therapie beeinflussen. Kriminelles Verhalten einer PatientIn oder möglicher häuslicher Missbrauch machen es beispielsweise nötig, dass wir unser Vorgehen überdenken. Was tun wir, wenn wir wissen, dass eine KollegIn die professionelle Ethik verletzt hat oder wenn wir selbst in Versuchung sind, ethische Leitlinien und ethische Kodizes zu verletzen? Der Versicherung eine weitere Sitzung