Die moderne Psychiatrie wurde aus dem Versuch heraus geboren, psychopathologische Phänomene zu benennen und zu klassifizieren. Durch seine klinische Unterscheidung zwischen Dementia Praecox und manisch-depressiver Psychose (Kraepelin 1903) hat Kraepelin in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen großen Fortschritt für die Psychiatrie seiner Zeit erzielt. Er glaubte, »natürliche Krankheitseinheiten« bestimmen zu können, wie etwa eine Lungenentzündung oder einen Herzinfarkt. Dadurch löste er psychische Leiden aus den Wirren moralischer Schuld und platzierte sie voll und ganz im Feld der Medizin. Auf diese Weise wurde eine Landkarte geschaffen, die klinischen Praktikern und PraktikerInnen bei der Orientierung auf ihrem Weg durch die chaotische Welt des Wahnsinns helfen sollte.7
Die psychiatrischen Diagnosesysteme, die in der Folge entstanden, folgten dem Beispiel der somatischen Medizin. Sie versuchten, Geisteskrankheiten als diagnostische Einheiten abzugrenzen, die eine erkennbare Ursache und einen vorhersehbaren Verlauf und Prognose hatten. In der psychiatrischen Diagnose benutzte man einen inferentiellen Ansatz, der über die beobachtbaren Phänomene hinausgeht und von ihnen auf mögliche Ursachen und Verläufe schließt (z. B. die Unterscheidung zwischen »endogener« und »reaktiver« Depression). Dieser Ansatz basierte jedoch auf Wunschdenken und erwies sich als Illusion. Wir kennen die Ätiopathologie (Ursachen und Mechanismen, die zum Entstehen einer Krankheit führen) einer absoluten Mehrheit der geistigen Störungen nicht (Smolik 2002).
Ab den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts verwendete man bei psychiatrischen Diagnosen einen empirischeren Ansatz, der rein auf beobachtbaren Phänomenen basierte (z. B. einfach depressive Symptome zu diagnostizieren, ohne über ihre Ursachen zu spekulieren). Zusätzlich begannen die Diagnosesysteme, nicht nur die psychopathologischen Symptome zu beschreiben. Weitere diagnostische Achsen wurden eingeschlossen, die auch die Persönlichkeit, den Lebensstil, den Grad der Einschränkung und das Umfeld einer PatientIn abdeckten. Heute haben wir überwiegend zwei psychiatrische Diagnosesysteme (DSM IV, ICD 10). Diese präsentieren sorgfältige, doch willkürliche Entwürfe, deren Aufgabe es ist, den Weg zu vereinfachen, indem man durch die Verwendung einer Landkarte kommuniziert, die von allen in der klinischen Praxis Arbeitenden geteilt wird.
3.3 Die Diagnose in der Psychotherapie
PsychotherapeutInnen räumen ein, dass Landkarten die unvermeidbare Realität der psychotherapeutischen Arbeit in unserem kulturellen Kontext sind. Die Beziehung zwischen Psychotherapie und Diagnose ist jedoch komplex (Bartuska et al. 2008). Im Bereich der Psychotherapie bilden sich bis heute sehr unterschiedliche Positionen heraus. Es gibt deutliche Bemühungen der verschiedenen psychotherapeutischen Ansätze, Methoden zu erarbeiten, die die Einschätzung von individuellen PatientInnen ermöglichen und dadurch die klinische psychotherapeutische Behandlung dieser PatientInnen vereinfachen soll. Der Versuch, ein psychotherapeutisches Diagnosesystem zu erstellen (siehe z. B. Bartuska et al. 2008) basiert auf folgenden Grundfragen (Pritz 2008): Wie können wir diagnostische Prozesse in der Psychotherapie beschreiben und ist es möglich, verschiedene Diagnosemethoden, die von unterschiedlichen psychotherapeutischen Systemen verwendet werden, zu beschreiben und so den Boden für eine gemeinsame diagnostische Praxis zu bereiten?8
Es gibt unterschiedliche Arten von psychotherapeutischen Diagnosesystemen. Der gestalttherapeutische Ansatz als Teil von humanistischen und erlebnisorientierten Traditionen sieht psychotherapeutische Diagnosen nicht als fixes System von Schubladen, in die PatientInnen einsortiert werden sollen, sondern vielmehr als ein System aus Hinweisen, das der TherapeutIn hilft, sich im therapeutischen Prozess ständig neu zu orientieren und eine hilfreiche Landkarte der therapeutischen Situation zu entwerfen. Die TherapeutIn erstellt diese Landkarte in dem vollen Bewusstsein, dass sie nur eine Vereinfachung der Realität darstellt und dass sie selbst Teil dieser Landkarte ist. Die TherapeutIn befindet sich in der Beziehung mit der PatientIn, beobachtet gleichzeitig die unablässigen Veränderungen eines einzigartigen therapeutischen Prozesses und passt in der Folge ihre Beschreibung einer Situation in Kooperation mit der PatientIn an.
3.4. Der gestalttherapeutische Ansatz und Diagnose
Der reflektierte, kritische und integrierte Einsatz aktueller Nosologien kann ein Beitrag zur Therapie sein. Es ist Sache der GestalttherapeutIn, diese Welt und Tradition geschickt in die Beziehung einfließen zu lassen und nicht einfach objektivierende Raster »auszuleihen«, die der Gestalttherapie fremd sind. Hier sehen wir uns dem Paradox des hermeneutischen Zirkels gegenüber: ein Kreis, in dem das Wissen über Diagnosen und Psychopathologie gleichzeitig eine notwendige Voraussetzung und ein unüberwindbares Hindernis für das Verständnis des Leidens darstellen (Gadamer 1960, 312; Spagnuolo Lobb 2001c). Durch die Bewusstheit dieser Zirkularität wird aus dem diagnostischen Prozess ein beziehungsorientierter Prozess.
Aus gestalttherapeutischer Sicht ist eine Diagnose der Prozess, die sich herausbildende Bedeutung der komplexen und veränderlichen klinischen Situation zu benennen. Eine gestalttherapeutische Diagnose zielt nicht auf feste Schlussfolgerungen ab (Brownell 2010a), sondern dient als flexible und momentane Arbeitshypothese (Höll 2008), die es der TherapeutIn ermöglicht, sich in einer klinischen Situation zu orientieren und zu überlegen, welche therapeutischen Wege angemessen und passend sind. Eine Diagnose ist dann am nützlichsten, wenn sie deskriptiv, phänomenologisch und flexibel gehalten wird (Joyce / Sills 2006). Durch den Dialog mit der PatientIn ko-kreiert und korrigiert die GestalttherapeutIn die Diagnose immer wieder. Die TherapeutIn, die eine Diagnose formuliert, repräsentiert ein Element, das untrennbar mit dem gegenwärtigen Beziehungsnetz verbunden ist. Daher sind die Phänomene der Interaktion zwischen TherapeutIn und PatientIn wichtige Objekte des explorativen Interesses der TherapeutIn.
Im Laufe der Geschichte haben GestalttherapeutInnen Diagnosen entweder umgangen9 oder versucht, eine spezifisch gestalttherapeutische Version des Diagnosesystems zu schaffen (Brownell 2010a). Der gestalttherapeutische Ansatz stand traditionellerweise gegen die objektivierende, pathologisierende und depersonalisierende Etikettierung von Menschen (Perls / Hefferline / Goodman 2006), wie sie in der Medizin und der frühen Psychoanalyse weit verbreitet war. Auf der Grundlage der Verbindung der Feldphänomene und der Einzigartigkeit der Lebensgeschichte jedes Menschen wurden unterschiedliche theoretische Schlussfolgerungen hervorgehoben.10
Andererseits ergab sich im gestalttherapeutischen Ansatz immer auch die Notwendigkeit, sich mit Typologien zu befassen, um der TherapeutIn eine Orientierungshilfe zu geben und um die Art der Intervention zu bestimmen (Perls / Hefferline / Goodman 1951, 2006). Diagnosen lassen sich nicht vermeiden, und so steht man vor der Wahl, sie unachtsam und nachlässig oder durchdacht und achtsam zu stellen (Yontef 1993). GestalttherapeutInnen sind sich des Risikos bewusst, dass sie statt der PatientIn möglicherweise die Diagnose behandeln und dass sich ihr Ansatz depersonalisierend und anti-therapeutisch auswirken kann. Sie sind sich auch darüber im Klaren, dass eine Ablehnung von Diagnosen und Differenzen zwischen Menschen einen ähnlichen Effekt haben können (Delisle 1991).
Obwohl klinische und diagnostische Modelle mit einem gemeinsamen gestalttherapeutischen Unterbau erst noch entwickelt werden müssen, gab es bereits zahlreiche Versuche, ein Diagnosesystem zu erstellen (z. B. Tobin 1982; Delisle 1991; Swanson / Lichtenberg 1998; Melnick / Nevis 1998; Baalen 1999; Fuhr / Sreckovic / Gremmler-Fuhr 2000; Dreitzel 2004; Siegel 2007; Francesetti / Gecele 2009; Dreitzel 2010, Schübel 2011; Roubal 2012). Diese Autoren geben sich große Mühe, sowohl Begriffe aus der allgemeinen Psychopathologie als auch der Gestalttherapie zu verwenden. Dies ist keine leichte Aufgabe, da die psychopathologische und die gestalttherapeutische Terminologie unterschiedlichen Paradigmen entspringen. Viele Autoren konzentrieren sich auf die Verbindung zwischen Leiden und der Art, in der der Kontakt unterbrochen wird, wie sie im letzten Teil von Perls / Hefferline / Goodman (1951, 2006) kurz angesprochen wird. Solche Analysen bieten einen Leitfaden für den therapeutischen Prozess und verschiedene Interpretationsmöglichkeiten