Die Kontexte änderten sich aber am Ende der 1980er- und zu Beginn der 1990er-Jahre noch einmal, und vor diesem Hintergrund schienen in den 1990er-Jahren fundamentale Reformen in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung plötzlich möglich. Motive für den Reformimpetus lassen sich sowohl in regionalen als auch in nationalen und internationalen Kontexten finden (Criblez & Lehmann 2016/im Druck). Auf gesamtschweizerischer Ebene spielte die Schaffung von Fachhochschulen, die als wesentliche Vorbilder für die Pädagogischen Hochschulen gelten können,11 eine wesentliche Rolle. Und die Gymnasialreform ermöglichte es, den allgemeinbildenden Teil der Ausbildungskonzeptionen der Seminare neu als musische oder pädagogisch-sozialwissenschaftliche Maturitätsprofile zu etablieren. Ein wichtiges Motiv für die Reformen in den 1990er-Jahren war zudem die gegenseitige Diplomanerkennung zwischen den Kantonen. Dynamisierend wirkte in dieser Hinsicht vor allem der europäische Integrationsprozess. Obwohl der Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) im Dezember 1992 in der Volksabstimmung abgelehnt worden war, war in diesem Umfeld das Problem der Diplomanerkennung deutlich geworden. Unter Bedingungen der freien Mobilität des Personals in Europa – mit den EWR-Verträgen zwar abgelehnt, über die bilateralen Verträge dann aber doch eingeführt (vgl. Kreis 2009) – entstand das Problem der sogenannten Inländerdiskriminierung. Das Problem lässt sich am besten an einem Beispiel illustrieren: Ein Lehrdiplom aus dem süddeutschen Raum musste im Kanton Aargau formal anerkannt werden, dasjenige aus dem Kanton Zürich oder dem Kanton Bern aber nicht. Die gegenseitige Anerkennung der (Lehr-)Diplome wurde deshalb zu einem der prägenden bildungspolitischen Themen der 1990er-Jahre. Ein Anerkennungsverfahren setzte aber entsprechende Standards voraus, die der Anerkennung zugrunde gelegt werden konnten – und erzeugte dadurch harmonisierende Wirkungen.
Versuche, die Lehrerinnen- und Lehrerbildung zwischen den Kantonen anzugleichen, hatte es allerdings schon vor den 1990er-Jahren gegeben.12 Die EDK hatte ihre Zusammenarbeit 1970 mit dem Schulkonkordat (EDK 1970) auf eine neue Grundlage gestellt. Die Lehrerinnen- und Lehrerbildung war explizit als Thema der Koordinationsbemühungen vorgesehen und die EDK setzte eine Kommission ein, die entsprechende Vorschläge unterbreiten sollte (Lehmann 2013). Unter dem Titel «Lehrerbildung von morgen» erschien 1975 der Bericht der Kommission, die vom Thuner Seminardirektor Fritz Müller präsidiert worden war. Die Experten hatten sich jedoch nicht auf ein einheitliches Konzept für die Lehrerinnen- und Lehrerbildung einigen können und schlugen einen Kompromiss vor: Die Harmonisierung der Lehrerinnen- und Lehrerbildung sollte über die Inhalte, nicht über die Konzepte und Strukturen erfolgen. Das maturitätsgebundene und das seminaristische Lehrerbildungskonzept wurden als gleichwertig erachtet unter der Bedingung, dass die seminaristische Lehrerinnen- und Lehrerbildung mindestens fünf Jahre dauert.
Die Verlängerung der vierjährigen Ausbildung für Primarlehrerinnen und Primarlehrer auf fünf Jahre war seit Jahren eine Professionalisierungsforderung gewesen, hatte aber bei dem sehr großen Mangel an Lehrpersonen nicht realisiert werden können. Mitte der 1970er-Jahre veränderte sich die Situation auf dem Lehrerarbeitsmarkt aber nach dem «Ölschock» und im Kontext der damit verbundenen Wirtschaftskrise sehr schnell vom Mangel zum Überfluss (Criblez 2016/im Druck). Unter anderem um den Arbeitsmarkt zu entlasten, wurde die seminaristische Ausbildung in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre in allen Kantonen verlängert. Im Kanton Bern wurde die fünfjährige Ausbildung rasch neu konzipiert (Wyss 1976) und begann 1977. Ein Jahr später reichte Grossrat Albrecht Rychen im Bernischen Grossen Rat folgende Motion ein, die auch überwiesen wurde: «Im Zusammenhang mit der Verlängerung der Primarlehrerausbildung und insbesondere auch mit der Planung der Weiterbildungsphase wird der Regierungsrat beauftragt, dem Grossen Rat bis 1982 eine Gesamtkonzeption für die Ausbildung der Lehrer aller Stufen und Schultypen vorzulegen» (Tagblatt des Grossen Rates des Kantons Bern 1978, S. 165). Damit war eine über die einfache Verlängerung der Ausbildung von Primarlehrpersonen hinausgehende Reform, das Projekt einer Gesamtkonzeption, initiiert.
2.3Frühe Reform – und Korrekturnotwendigkeiten
So schnell, wie sich dies der Motionär vorgestellt hatte, sollte die Reform aber nicht realisiert werden. Denn einerseits sollten für eine Gesamtkonzeption zunächst die notwendigen Grundlagen erarbeitet werden. Dazu fanden umfassende Abklärungen statt, unter anderem zum Tätigkeitsfeld der Lehrerinnen und Lehrer (Berufs-/Amtsauftrag), zu den notwendigen Fähigkeiten für den Lehrberuf, zur Gliederung in unter-schiedliche Lehrkategorien, zum Verhältnis von Grundausbildung, Berufseinführung und Weiterbildung, zu den notwendigen Rechtsgrundlagen oder zu Standorten und Kostenfolgen (Erziehungsdirektion 1986; Thomet 1988). Die Projektarbeiten unter der Leitung von Ulrich Thomet wurden breit abgestützt, verschiedene Anspruchsgruppen wurden in die Abklärungen einbezogen und es wurden verschiedene Tagungen, Vorstudien und Befragungen durchgeführt. Andererseits wurde das Projekt im Verlaufe der 1980er-Jahre in das umfassende Projekt der «Gesamtrevision der Bildungsgesetzgebung» integriert (Erziehungsdirektion, 1982). Der Grosse Rat beauftragte die Regierung 1985 in diesem Rahmen, spätestens Ende der Legislatur 1986/1990 Bericht und Antrag zur «Gesamtkonzeption Lehrerbildung» vorzulegen (Grossratsbeschluss Gesamtrevision 1985).
Im Legiferierungsprozess, der nun folgte und in dem die institutionellen und organisatorischen Rahmenbedingungen der neuen Lehrerinnen- und Lehrerbildung festgelegt wurden, können grob drei Phasen unterschieden werden: erstens die Verabschiedung der Grundsätze im Grossen Rat des Kantons Bern 1990, mit denen die wesentlichen Eckwerte der neuen Lehrerinnen- und Lehrerbildung definiert wurden; zweitens die Verabschiedung des Gesetzes über die Lehrerinnen- und Lehrerbildung von 1995 als Grundlage für die Angliederung der Lehrerinnen- und Lehrerbildung an die Universität Bern sowie drittens das Gesetz über die Pädagogische Hochschule von 2004, mit dem eine autonome Pädagogische Hochschule geschaffen wurde.
Erste normative Festlegungen für eine neue Lehrerinnen- und Lehrerbildung im Kanton Bern erfolgten deshalb bereits 1990, als der Grosse Rat Grundsätze zur «Gesamtkonzeption der Lehrerbildung» (Grossratsbeschluss GKL 1990) beschloss – also noch bevor auf interkantonaler Ebene die Reformdiskussionen überhaupt flächendeckend initiiert worden waren. Die Eckwerte für die Neuorganisation der Volksschullehrerausbildung präsentierten sich nach diesem Grossratsbeschluss vom 14. August 199013 wie folgt (vgl. auch Criblez & Reusser 2001; Weniger 2012, 2016/im Druck):
—Die Ausbildung aller Lehrerinnen und Lehrer sollte im tertiären Bildungsbereich erfolgen, also einen Ausbildungsabschluss auf der Sekundarstufe II voraussetzen, wobei auch Abschlüsse der Berufsbildung als Vorbildung anerkannt werden sollten.
—Die Grundausbildung sollte unterteilt werden in einen allgemeinen, stufen- und typenübergreifenden sowie einen stufenbezogenen Teil. Damit sollte die Einheit der Lehrerinnen- und Lehrerbildung betont werden.
—Erstmalig in der deutschsprachigen Schweiz war eine gemeinsame Ausbildung für Lehrkräfte des Kindergartens und der unteren Klassen der Primarschule vorgesehen.
—Die Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer für die Sekundarstufe I sollte sich nicht mehr auf unterschiedliche Schultypen beziehen, sondern sich ausschließlich an der Schulstufe orientieren.
—Für Kindergarten und Volksschule waren drei stufenbezogene Ausbildungsgänge vorgesehen: für den Kindergarten und die 1./2. Klasse der Primarschule, für die 1. bis 6. Klasse sowie für die 5. bis 9. Klasse. Für die 1. und 2. sowie für die 5. und 6. Klasse sollten also je zwei Lehrkategorien unterrichtsberechtigt sein (sogenannte Stufenüberlappung).
—Die Dauer der Ausbildung im tertiären Bildungsbereich sollte harmonisiert werden: zwei Jahre für Kindergarten und Primarstufe, drei bis vier Jahre für die Sekundarstufe I und sechs Jahre für die Sekundarstufe II (bei den beiden letzteren: inklusive fachwissenschaftliche Ausbildung).
—Die Grundausbildung sollte zugunsten des lebenslangen Lernens