4.2 WAS AHMEN KINDER NACH?
Die Alltagserfahrung, dass Kinder alles nachahmen, kann und muss im Lichte der Forschung etwas relativiert werden. In den folgenden Abschnitten wird beschrieben, welche Handlungsaspekte Kinder bei der Nachahmung besonders beachten und wie Erwachsene Sprache nutzen können, um das Nachahmungsverhalten bei Kindern zu steuern.
Soll ein Kind dazu gebracht werden, etwas nachzuahmen, kann seine Aufmerksamkeit und Nachahmungsbereitschaft durch direktes Ansprechen und den Gebrauch von kindgerichteter Sprache erhöht werden. Beides signalisiert Kindern: »Jetzt gibt es etwas zu lernen« (vgl. Király, Csibra & Gergely 2013). Kinder ahmen aber auch aus eigenem Antrieb nach. Zum Beispiel sind Interesse an den Handlungen anderer und Nachahmungsbereitschaft bei Kindern erhöht, die selbst erfolglos versucht haben, ein bestimmtes Ziel zu erreichen (vgl. Williamson, Meltzoff & Markman 2008). Dies ist ein interessanter Anknüpfungspunkt, um Nachahmungslernen in der Elementarbildung auch in solchen Einrichtungen zu integrieren, in denen auf eigenständiges entdeckendes Lernen gesetzt wird.
4.2.1 NACHAHMUNG VON HANDLUNGSMITTELN UND HANDLUNGSZIELEN
Kleinkinder interpretieren das Verhalten von anderen in erster Linie instrumentell, d. h., sie ahmen hauptsächlich die Effekte nach, die andere Menschen mit ihren Handlungen erzielen. Auf die Handlungsmittel achten Kinder bis zum Alter von 18 bis 24 Monaten (noch) wenig (vgl. Carpenter, Call & Tomasello 2005). Ihre Aufmerksamkeit kann jedoch bewusst auf Handlungsmittel gelenkt und damit Nachahmungsverhalten erzeugt werden, das die Handlungsmittel umfasst.
Eine Möglichkeit, das kindliche Nachahmungsverhalten auf Handlungsmittel zu lenken, ist, unerwartete, ineffektive und sinnlose Handlungsmittel zu verwenden. Kinder ahmen z. B. einen Erwachsenen, der einen Lichtschalter freiwillig mit dem Kopf bedient, sehr stark nach (vgl. Gergely, Bekkering & Király 2002). Weiterhin ist die Nachahmung von Handlungsmitteln erhöht, wenn eine Handlung kein Ziel bzw. keinen Effekt zu haben scheint. Zum Beispiel ahmen 18 Monate alte Kinder das Hüpfen einer Maus (Handlungsmittel, einen bestimmten Zielort zu erreichen) öfter nach, wenn die Maus einfach in eine Richtung hüpft, als wenn die Maus in ein Haus hüpft. Im zweiten Fall, wenn es ein offensichtliches Handlungsziel (das Haus) gibt, liegt der Fokus der Nachahmung der Kinder auf diesem Ziel; während sie das Handlungsmittel »Hüpfen« vernachlässigen (vgl. Carpenter, Call & Tomasello 2005). Wenn wiederum die Pädagogin das Handlungsziel »ins Haus« sprachlich uninteressant macht, indem sie es im Gespräch beinah »zerkaut« (»Schau mal das ist das Haus. Das ist das Haus von der Maus. Die Maus wohnt in dem Haus …«), rückt das vergleichsweise spannende, weil sprachlich nicht erwähnte Handlungsmittel »Hüpfen« wieder in den Fokus der Aufmerksamkeit und in den Vordergrund des kindlichen Nachahmungsverhaltens (vgl. Southgate, Chevallier & Csibra 2009). Alle diese Effekte können mit Aufmerksamkeitsverteilungen erklärt werden: Sowohl neue als auch unerwartete Reize (Objekte, Handlungen oder Handlungsaspekte) erregen die Aufmerksamkeit (vgl. Bradley 2009). Wenn ein neuer Reiz ungefährlich ist und das Modell positive Emotionen zeigt, beginnen Kinder, ein Objekt zu erkunden (vgl. Klinnert et al. 1986).
Ab einem Alter von circa zwei Jahren ahmen Kinder alle Aspekte von Handlungen sehr präzise nach. Der frühkindliche Fokus auf Handlungsziele verschwindet, Handlungsmittel werden immer stärker in die Nachahmung einbezogen (vgl. Nielsen 2006). Dieser neue Fokus auf das Nachahmen von Handlungsmitteln erlaubt es Kindern, auch komplexe, kausal unverständliche Handlungen nachzuvollziehen und dadurch gegebenenfalls sogar schrittweise zu verstehen. Nachahmung ist in diesem Falle ein Mittel zum Verstehen des Handlungsziels oder des Grundes, warum ein bestimmtes Handlungsmittel ausgewählt wurde (vgl. Buttelmann et al. 2008, S. 622).
4.2.2 DIE ROLLE DER SPRACHE FÜR DAS NACHAHMUNGSVERHALTEN
Wie schon angedeutet, ist die Sprache ein wichtiges Mittel, das Nachahmungsverhalten von Kindern zu steuern. Besonders eignet sich die Sprache, um den konventionellen bzw. instrumentellen Charakter einer Handlung zu markieren. Der konventionelle Charakter einer Handlung kann hervorgehoben werden, indem sprachlich deutlich gemacht wird, dass die Handlung soundso genannt wird oder typischerweise genau so ausgeführt wird (»So macht man das«). Dagegen tritt der instrumentelle Charakter der Handlung in den Vordergrund, wenn das Handlungsziel benannt wird.
Spätestens ab einem Alter von zwei Jahren können Kinder konventionelle und nichtkonventionelle (d. h. instrumentelle) Handlungen unterscheiden. Die Fähigkeit, konventionelle und instrumentelle Handlungen zu unterscheiden, erlaubt Kindern spezifisches Nachahmungsverhalten. Eine aktuelle Studie zeigt, dass Kinder instrumentelles Verhalten in erster Linie hinsichtlich der Handlungsziele nachahmen; die Handlungsmittel werden nicht oder weniger genau nachgeahmt, als dies bei konventionellem Verhalten der Fall ist. Wenn der konventionelle Charakter einer Handlung jedoch sprachlich hervorgehoben wird, zum Beispiel, indem der oder die Vorführende sagt: »Alle machen das so«, ahmen Kinder verstärkt die Handlungsmittel nach (vgl. Clegg & Legare 2016; Herrmann et al. 2013).
Aber auch das pure Benennen einer Handlung kann den konventionellen Charakter einer Handlung verstärken. Schon bei Kleinkindern erhöht dies die präzise Nachahmung (vgl. Chen & Waxman 2013). Aber es ist Vorsicht geboten. Kindern unter zwei Jahren fällt das simultane Verarbeiten von Sprache und Handlung noch schwer. Erst ab einem Alter von circa zweieinhalb bis drei Jahren ist die Sprachverarbeitung schnell genug, sodass sich das gleichzeitige Verarbeiten von Sprache und Handlung nicht mehr behindern (vgl. Gampe & Daum 2014). Bis zu diesem Alter müssen Erwachsene genügend Zeit zur Sprachverarbeitung geben, bevor sie eine Handlung präsentieren.
4.2.3 TIPPS FÜR DIE PÄDAGOGISCHE PRAXIS
1.Bei motorischen Übungen mit Kleinkindern sollten Pädagoginnen bzw. Pädagogen zunächst auf ein Handlungsziel verzichten. So kann die Aufmerksamkeit der Kinder besser auf die Bewegung gelenkt werden. Zum Beispiel:
a.Beim Ballschießen (/-werfen) zunächst kein Tor (bzw. keinen Korb) als Ziel verwenden. Kleinkinder brauchen selten derartige Motivationen. Im Gegenteil, es lenkt das Kind von der Ausführung der Bewegung ab. Den Ball lediglich zu schießen oder zu werfen ist Freude und Aufgabe genug.
b.Bei feinmotorischen Greifübungen zunächst keinen Becher, kein Steckbrett oder Bild bzw. keinen Leimtopf als Ziel verwenden. Das Beobachten und Ausführen des Greifens und Wieder-fallen-Lassens von kleinen Gegenständen erfordert am Anfang alle Aufmerksamkeit.
2.Vor Demonstrationen, die Kinder nachahmen sollen, sollten die Kinder unmittelbar vor der Vorführung und währenddessen immer wieder direkt von der Pädagogin oder dem Pädagogen angeschaut werden. Bei Gruppen sollte sich diese bzw. dieser mit dem Blickverhalten auf die Kinder konzentrieren, die leicht abgelenkt sind.
3.Sprachliche Kommentare sollten bei Kleinkindern sparsam eingesetzt werden. Wichtig ist insbesondere, dass den Kindern genug Zeit zum separaten Verarbeiten von Sprache und Handlung bleibt. Gut machbar ist dies, wenn die Pädagogin bzw. der Pädagoge eine Handlung vor und nach der Demonstration kommentiert/beschreibt.
4.Bei Kindern ab zwei bis drei Jahren können sprachliche Kommentare gezielt eingesetzt werden, um die Aufmerksamkeit der Kinder auf die Art und Weise oder das Ziel bzw. den Effekt einer Handlung zu lenken. Wichtig ist, dass man bei Wiederholungen identische Formulierungen benutzt.
a.Fokus auf das Handlungsziel (= instrumentelle Handlung): Ziel oder Effekt benennen, z. B.: »(Ich mache mir) eine Kette.«
b.Fokus auf das Handlungsmittel