Religion und Bildung in Kirche und Gesellschaft. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Группа авторов
Издательство: Bookwire
Серия: Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783429060275
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sich als „Untermieter“ in bestehenden Kirchengebäuden der Großkirchen zu versammeln, Berührungs- und Kontaktmöglichkeiten mit sich. In diesen Annäherungsprozessen sind beide Seiten gefordert. Die für alle Beteiligten anstehenden Veränderungen zeichnen sich erst langsam ab.

      Ein typisches Unterscheidungsmerkmal zwischen vielen neueren Migrationskirchen und den deutschen „Mainline-Churches“ findet sich im Bereich der Spiritualität. Dabei geht es nicht nur um ein Mehr oder Weniger an Nüchternheit oder Emotionalität im Gottesdienst, es geht sehr fundamental um unterschiedliche kosmologische Konzeptionen des Christlichen. Hinter den sichtbaren unterschiedlichen „Stilen“ und „Ausdrucksformen“ der verschiedenen Christentümer stehen nicht zuletzt sehr unterschiedliche Vorstellungen von Gott und Welt, von Mächten und Dämonen, von Zeit und Raum, von „aufgeklärter“ und „religiöser“ Rationalität. Diese Unterschiede lassen es sinnvoll erscheinen, von „Christentümern“ zu sprechen. Was diese Christentümer überhaupt noch als „gemeinsamer Nenner“ verbindet, dürfte – mit Theodor Ahrens (vgl. Ahrens 2005, 213f) – wohl am ehesten im Bezug auf die Bibel bzw. die Jesus-Story bestehen. Dabei geschieht selbst die Art und Weise dieser Bezugnahme sehr unterschiedlich, was beispielsweise Werner Kahl anschaulich herausgearbeitet hat. (vgl. Kahl 2007)

      Weitere christliche Migrationsgruppen

      Neben katholischen Migrationsgemeinden und solchen freikirchlichpentekostaler/charismatischer Art gibt es zahlreiche weitere christliche Kirchen, Gruppen und Gemeinschaften, die im Zuge von Migration das Bild des Christlichen in Mitteleuropa verändern. Zu denken ist hier an die verschiedenen orthodoxen Kirchen aus Süd-Osteuropa, aus den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion, aus dem nahen Osten, aus Indien, aus Ägypten, Eritrea, Äthiopien und anderen Ländern. Dazu kommen verschiedene, häufig global agierende Gruppierungen mit großem missionarischem Engagement, z. B. die „Mormonen“ (Die Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage), die Zeugen Jehovas und andere.

      Welche Minderheit hat die Mehrheit?

      Für etliche Großstädte in Europa geht man zurzeit davon aus, dass dort an sonntäglichen christlichen Gottesdiensten Migrantinnen und Migranten längst die Mehrheit darstellen. Für London und für das protestantische Hamburg gilt als gesichert, dass die Gottesdienstbesucherzahl der Christinnen und Christen afrikanischer Herkunft diejenige der anglikanischen bzw. lutherischen Gottesdienstbesucherinnen und - besucher längst übertroffen hat. Im Ruhrgebiet dürfte die Zahl der sonntäglichen Gottesdienstbesucherinnen und -besucher mit Migrationshintergrund ebenfalls die größte Gruppe darstellen. Unter den Vorzeichen einer formalen Zählung der Konfessionszugehörigkeit in Deutschland (amtliche Kirchenmitgliedschaftsstatistik) würde man wohl zu anderen Ergebnissen kommen. Dabei wäre dieser Befund nicht eindeutig: Anzunehmen ist nicht zuletzt eine große Zahl von Migrantinnen und Migranten, die sowohl einer Migrationsgemeinde als auch einer Großkirche angehören. Von daher dürfte der Blick auf die Gottesdienstbesuchszahlen zumindest als eine Vergleichsebene neben anderen eine wichtige Ergänzung des Gesamteindrucks darstellen.

      Keine kirchliche Gemeinschaft kann in Deutschland oder in der Schweiz für sich beanspruchen, Mehrheit zu sein. Diese diasporale Wirklichkeit jeder Kirche bzw. Denomination gilt es anzuerkennen. Es gibt nur noch größere oder kleinere Minderheiten, die ein sehr buntes und plurales Bild des Christlichen in Europa bezeugen. Giancarlo Collet hat mit Blick auf die faktische „Enteuropäisierung der europäischen Christenheit“ die ökumenische und missionarische Herausforderung beschrieben: „Gemeinsam das Evangelium verkünden“ (Collet 2010, 243-266). Diese Aufgabe impliziert praktisch-theologische Klärungen:

      Therapie der ökumenischen Amnesie

      Klaus Hock spricht von der Notwendigkeit einer „Therapie unserer ökumenischen Amnesie“ (Hock 2010, 31). Er ermutigt dazu, den schwierigen Lernprozess (nicht nur) der Missionswissenschaft fortzusetzen, nämlich sich immer wieder einzugestehen, dass unsere eigenen christlichen und theologischen Diskurse andere christliche Gruppen ins Abseits drängen, sie unsichtbar machen und vergessen lassen. Die nahezu vollständige Ausblendung der katholischen Missionen innerhalb der katholischen praktischen Theologie mag dafür nur ein Beispiel sein; genauso wie der Verdacht, dass der heute zunehmende Blick auf Migrationskirchen auch der Hilflosigkeit der Mainline-Churches beim sorgenvollen Blick auf ihre eigene Zukunft geschuldet sein könnte. Hier wirken Machtkonstellationen zwischen den Christentümern, mit denen sich nicht zuletzt die praktische Theologie selbstkritisch auseinanderzusetzen hätte.

      Wie Minderheit sein?

      Eine ehrliche Wahrnehmung und Therapie der ökumenischen Amnesie müsste auch zur Klärung der Frage führen, wie in den Kirchen und Gemeinden mit der Minderheitssituation überhaupt umgegangen werden soll und wie sie theologisch zu begreifen wäre. Karl Rahner hat in diesem Zusammenhang – und mit Blick auf die katholische Kirche – von einer „planetarischen Diaspora“ gesprochen und diese als „heilsgeschichtliches Muss“ theologisch qualifiziert. (vgl. Rahner 1961, 13-47) Heute dürfte man wohl damit rechnen, dass die meisten Christinnen und Christen dieser Einschätzung für jedes „Christentum“ folgen würden. Offen ist jedoch, zu welchen Konsequenzen die theologische Deutung der Minderheitssituation als „heilsgeschichtliches Muss“ führen wird. Wie kann man sich die Verhältnisbestimmung einer Minderheitskirche zu anderen Minderheitskirchen sowie zur Gesellschaft insgesamt in Zukunft vorstellen? Soweit absehbar, sprengen die Antwortversuche die bisherigen Einteilungen und Kategorialisierungen von Migrations- und Mainline-Churches. Wer sich einige Zeit mit den Migrationsgemeinden beschäftigt, wird bald auch ein anderes Bild von den „normalen“ Kirchen bekommen. Dabei geraten bisherige Kategorialisierungen deutlich in Bewegung.

      Auf der einen Seite finden sich nämlich Kirchen und Gemeinden, deren Kennzeichen vor allem der Abgrenzung nach außen dienen. Unter den Stichworten der „Profilierung“ und der „Eindeutigkeit der Verkündigung“ wird die Minderheitssituation ausdrücklich aufgegriffen und in das Selbstkonzept als bestimmendes Kriterium, wenn nicht gar als vermeintliches „Proprium“ übernommen. Als Aufgabe der Minderheit wird vor allem gesehen, die eigene Identität zu schützen und abzugrenzen. So wird eine Minderheitsidentität quasi zum Selbstläufer. Dabei kann diese durchaus ein „missionarisches“ Moment formulieren, nämlich die Einladung zum Beitritt zur Minderheit (und ihren Spielregeln) als Übertritt aus der restlichen „profillosen Mehrheit“.

      Hier gibt es durchaus Parallelen zwischen manchen Migrationskirchen und Teilen der Großkirchen. Christoph Jacobs hat erst kürzlich mit Blick auf jüngere katholische Priester auf ein von ihnen repräsentiertes „Minderheits“-Selbstverständnis hingewiesen, welches aus dem Minderheitsstatus ein ästhetisches und programmatisches Projekt der eigenen Identitätsabsicherung macht. (vgl. Jacobs 2010, 313-322) Bei manchen Migrationsgemeinden lassen sich angesichts ihrer vieldimensionalen und oft schmerzhaften Minderheitsrealität vergleichbare Abgrenzungsreaktionen finden. Beide Gruppen dürften mit Leichtigkeit theologische oder biblische „Narrative“ in ihr Minderheitskonzept einbauen können („Heiliger Rest“, „Erwähltes Volk“…).

      Als Alternative zu einem Minderheitskonzept der Abgrenzung und Aussonderung bietet sich auf der anderen Seite ein Minderheitskonzept an, das sich ökumenisch-dialogisch versteht. Eine solche Minderheit wäre keineswegs „profillos“, sie würde sich aber auch nicht zur Gefangenen ihres eigenen Minderheitsprofils machen lassen. Vielmehr würde sie sich aus einer kontextbewussten Selbstwahrnehmung heraus auf Prozesse ökumenischen Lernens (Ernst Lange) einlassen können. Ohne damit zu rechnen, irgendwann einmal Mehrheit oder gar „Alle“ zu sein, wäre ein Selbstverständnis als Minderheit denkbar, das sich aus der universalen Perspektive des Evangeliums nicht heraus stiehlt, das sich aber auch der eigenen Begrenztheit und kontextuellen Perspektivenbeschränkung bewusst bleibt und von daher in der Pflicht sieht, sich mit den Anderen ökumenisch lernend in Beziehung zu setzen. Minderheitskirchen in Mitteleuropa – solche mit ehemaliger Mainstream-Identität und solche mit den Kennzeichen einer migrantischen Identität – würden so entdecken und bezeugen können, was das Evangelium angesichts