Menschen, die an Gott glauben, geben dieser einen, zweiseitigen Grunderfahrung einen religiösen Inhalt. Das ‚offene Ja’ erhält dann mehr Zielrichtung und Relief. Sein Ursprung ist nicht so sehr, oder zumindest nicht direkt, die Transzendenz ‚des Göttlichen’ – die unaussprechlich und anonym ist, sich nicht in Worte fassen lässt – als vielmehr – wenigstens für Christen – das erkennbare menschliche Antlitz dieser Transzendenz, wie es unter uns im Menschen Jesus erschienen ist, den wir als Christus und Sohn Gottes bekennen. So geht für Christen das grundlegende Murren der Menschheit in eine begründete Hoffnung über. Etwas von einem Seufzer der Barmherzigkeit, des Erbarmens, steckt in den tiefsten Tiefen der Wirklichkeit, gläubige Menschen vernehmen darin den Namen Gott.“ (Schillebeeckx 1990, 28f)
Das Nein der Empörung geht also notwendigerweise zusammen mit einem Ja zur Möglichkeit einer anderen, einer besseren Welt; und es ist nicht ausgeschlossen, das Entstehen von Religion mit dieser „zweiseitigen Grunderfahrung“ zusammen zu bringen. In der „Leidenschaft für das ‚Heil-sein’ von Natur und Weltgeschichte, von Gesellschaft und Menschen untereinander“ erkennt Schillebeeckx „ein Geheimnis, das viele Menschen – unter welchem Namen auch immer – Gott nennen“ (Schillebeeckx 1990, 19).
Gottesrede und die „zweiseitige Grunderfahrung“ der Empörung
Frère Rudolf, evangelischer Pastor aus Hamburg, Bruder der Gemeinschaft von Taizé und seit mehr als 20 Jahren Mitglied der von Taizé im Nordosten Brasiliens gegründeten Kommunität, bringt in vielen seiner sporadisch zugeschickten Nachrichten das Evangelium auf überraschende Weise zusammen mit dem von Gewalt geprägten Alltag der Kinder und Jugendlichen, mit denen er regelmäßig spielt und arbeitet; oder er bringt auch Spuren aus diesem weit entfernten Alltag zusammen mit Zeugnissen aus unserer Gesellschaft hier in Deutschland. Seine Kommentare dazu sind karg, er lässt die von ihm hergestellten Verbindungen sprechen. So fanden sich in einer Nachricht vom Mai dieses Jahres praktisch nur zwei Fotos, eines aus Ostdeutschland, das andere aus dem Nordosten Brasiliens. Sie bezeugen beide ein Nein, eine verzweifelte Empörung – aber in jeweils einem Satz über Gott, der nicht gegensätzlicher sein könnte.
Auf beiden Fotos ist jeweils ein Haus zu sehen, eine ins Innere des Hauses führende verschlossene Tür und neben der Tür an die Wand geschrieben ein Satz in drei Worten: „God ist dead“ – Gott ist tot – wurde auf die eine Wand gesprüht; „Deus é fiel“ – Gott ist treu – steht in Kreidebuchstaben auf der anderen. Die eine Wand gehört ganz offensichtlich zu einer Kirche – einer Dorfkirche in Brandenburg, so hat der Fotograf präzisiert. Die andere Wand ist die eines baufälligen Lehmhauses im Nordosten Brasiliens. Von diesem Lehmhaus und der Situation, in der es zu dem Satz auf seiner Wand kam, wissen wir dank Frère Rudolf mehr: Er kennt die 13-jährige, die an ihre Hütte geschrieben hatte: „Gott ist treu“. Kurz zuvor war ihr Bruder ermordet worden, bis dahin hatte sie dort mit ihren Geschwistern gelebt.
Vom Autor der neben den Eingang in die kleine Kirche aufgesprühten Schrift wissen wir nichts. Aber auf dem Foto ist ein wenig mehr zu sehen: ein älterer Mann, der wohl gerade die Kirche verlassen hat, weil er mit dem Rücken zur geschlossenen Tür steht und die wenigen Stufen von dort noch nicht hinuntergestiegen ist. Die gesprühten Buchstaben sind größer als er. Es muss an dieser Nachbarschaft zwischen der Schrift und dem mit dem Gesicht dem Fotografen zugewandten Mann liegen, dass ausgerechnet dieses Foto mit seiner Absage an die Anwesenheit Gottes und damit an eine mögliche Beziehung, beim Betrachter den Eindruck hinterlässt, dass es voller Anwesenheit ist, erfüllt von einer starken Beziehung. „God is dead“ – das wirkt wie ein Schlag ins Gesicht dieses Mannes, wie ein Schrei oder auch eine Anklage, eine Herausforderung, die ihm entgegengeschleudert wird. Damit wir sie hören können, dürfen wir oberflächliche Assoziationen zur gesellschaftlichen Situation in Brandenburg zu Hilfe nehmen: Arbeitslosigkeit, entwohnte Häuser und Straßen, Jugendliche, die keine Zukunft für sich sehen. Dann hören wir, was die gesprühten Worte rufen. „Antworte, wenn du kannst! Gott ist doch tot! Wir sind die Letzten, abgeschrieben, vergessen. Gott ist eine Lüge – eure Lüge! Sag etwas dagegen! Wenn du an Gott glaubst, antworte mir doch…!“
Dagegen: „Gott ist treu“ – in bald abgewaschenen Kreidebuchstaben auf das armselige Haus im Nordosten Brasiliens geschrieben, von der Hand einer Jugendlichen, die in ihrer von Gewalt heimgesuchten, zerbrochenen Familie für sich selbst und ihre jüngeren Geschwister um ein Zuhause kämpft, in dem es möglich ist, in Sicherheit und Würde zu leben. Das Foto, das nichts weiter zeigt als dieses aufgegebene Haus ohne das geringste Zeichen von Leben, dessen Wand gerade noch als Unterlage für die Kreideschrift dient, bezeugt nichts als Leere, Abwesenheit und Verlassenheit – obwohl die Schrift eine Anwesenheit beschwört, auf die man sich verlassen kann, und eine Beziehung zusagt, die nicht aufgegeben wird, was auch immer passiert. Dieser Gegensatz arbeitet im Betrachter und hinterlässt Ratlosigkeit: Wie kann es sein, dass Gott treu ist, wenn die Situation, in der eine 13-jährige das schreibt, im schreienden Widerspruch dazu steht? Wie kann Gott treu sein, wo Willkür und Gewalt Kindern ihre Zukunft nehmen? Wer das Foto anschaut, kann den Eindruck gewinnen, als sei dieser Satz „Gott ist treu“ ein Anschrei gegen diese Fragen, ein Akt, mit dem eine Jugendliche ihre einzige Hoffnung beschwört, wie wenn diese dadurch, dass sie öffentlich gemacht wird, nicht getäuscht werden könnte.
Hier, in Deutschland, ein Nein voll von einem geheimen Ja – dort, in Brasilien, ein Ja gegen ein übermächtiges Nein. Beide Sätze sind Gottesrede: Rede über Gott, in der zugleich, ob als Absage oder Festhalten an einer Zusage, ob implizit oder explizit, eine Beziehung zu Gott und daher auch eine Rede zu Gott vorausgesetzt ist. Beide Sätze lassen sich als religiöse Zeugnisse in einer heillosen Situation lesen, die bei denjenigen, die nicht an ihr vorbei schauen, spontane Ablehnung bewirken kann und damit jenes Nein der Empörung, deren Grunderfahrung für Schillebeeckx zum Ursprung von Religion gehört.
Die beiden Drei-Wort-Sätze drücken allerdings weder hier noch dort selber ein Nein der Empörung aus. Trotz der Geschlossenheit der jeweiligen Aussage sind sie offen wie ein Schrei, der bei denen, die ihn hören, etwas bewirken will, sonst wäre er nicht geschrieben und öffentlich gemacht worden für alle, die an dieser Wand vorbei kommen. Bei diesen Menschen allerdings, die den einen oder den anderen Satz lesen, kann er sehr wohl Betroffenheit bewirken, und dann auch Aufmerksamkeit für die Not, aus der heraus er wie ein Schrei kommt, und schließlich auch Empörung über das Unrecht, das diese Not bedeutet. Betroffenheit, Aufmerksamkeit, Empörung und zugleich den Wunsch, sich für eine Veränderung der jeweiligen Situation einzusetzen, bewirken die Sätze vor allem bei jenen, denen eine Gottesrede, mag sie ihnen auch fremd sein oder von ihnen abgelehnt werden, dennoch nicht gleichgültig oder vielleicht sogar vertraut ist, so wie etwa die Psalmen der Bibel. Denn in ihnen kommen gerade auch Anklage, Verzweiflung, Abschied von Glauben und Hoffnung zu Wort. Beide Sätze haben jedenfalls ihr Recht in der Gemeinschaft derer, die nicht bereit sind, sich mit dem Leben und der jeweiligen Welt von Menschen, so wie sie ist, abzufinden, und die zugleich an die Möglichkeit einer anderen, besseren Welt glauben. Ihnen rufen sie Bitten entgegen, die sich zu ein- und derselben Herausforderung vereinen: „Sprecht mit uns von eurem Gott, auf dass er keine Lüge für uns ist! Zeigt uns, dass es stimmt, dass Gott treu ist! Handelt, damit er für uns lebendig ist! Handelt, damit unsere einzige Hoffnung nicht zuschanden wird!“.
Empörung und Solidarität als Inspiration für eine aufrichtende Theologie
Der Zusammenhang zwischen Religion und dem Nein der Empörung wird von Schillebeeckx vorsichtig angedeutet, wenn er sagt, dass Ursprung und Ziel dieser doppelten Erfahrung, in der sich das Nein zu einer heillosen Situation untrennbar mit dem Ja zu einer besseren Zukunft verbindet, für Christen ein menschliches Antlitz bekommen hat, das Antlitz des Menschen nämlich, den sie als Christus bekennen. Im Evangelium dieses Jesus Christus finden die Hörenden damals und die Lesenden heute allerdings kaum Spuren für den wechselseitigen