Vielleicht ist es dann sogar möglich, die Tiefendimension diakonischer Praxis auszuloten. Ob die christliche Tradition zum Verstehen dieser Tiefendimension etwas beizutragen hat, wird nicht zuletzt davon abhängen, ob es gelingt, diese in einer Sprache zu formulieren, die kirchlich Distanzierten nicht zu fremd und entfremdend ist. Hier wäre noch einmal an Dietrich Bonhoeffer zu erinnern, der in seiner Tegeler Theologie nicht nur gefordert hat, dass die Kirche für andere da zu sein hat, sondern dass Christinnen und Christen lernen müssen, weltlich von Gott zu sprechen. Er dachte an eine ganz und gar unreligiöse Sprache, die aber wie die Sprache Jesu befreiend und erlösend ist: „die Sprache einer neuen Gerechtigkeit und Wahrheit, die Sprache, die den Frieden Gottes mit den Menschen und das Nahen seines Reiches verkündet“ (Bonhoeffer 1997, 157). Wie sollen Christinnen und Christen diese neue Sprache lernen, in der sie sich und ihren Glauben verstehen können, wenn nicht mit all denen zusammen, die sich für das Kommen dieses Reiches der Gerechtigkeit und des Friedens diakonisch-praktisch einsetzen?
Literatur
Bonhoeffer, D., Widerstand und Ergebung, Gütersloh 161997.
11 „Er trat hinzu, verband seine Wunden und goss Öl und Wein darauf./Er setzte ihn auf sein Reittier, brachte ihn zum Wirtshaus und versorgte ihn./Er zog zwei Denare heraus, gab sie dem Wirt und sprach“ (Lk 10,34.35a).
Hadwig Müller
Religion und Erfahrungen der Empörung
Die Zusammenarbeit mit Norbert Mette für den Kongress der Pastoraltheologen im Herbst 2009 zum Thema „Christlicher Glaube in religionspluraler Gesellschaft“ (Mette 2010) war die bisher letzte Etappe eines langjährigen Weges12, auf dem sich mir das dialogische Arbeiten immer wieder bestätigte, das mir an Norbert Mette vertraut ist und ihn als Theologen auszeichnet. Wir trafen uns in Münster, und bei unserer Wanderung um den Aa-See fragte er – für die gemeinsam zu gebende Einführung in den Kongress – nach meinem Zugang zum Verständnis von Religionspluralität. Dann erzählte er von seinem Einsatz für eine Theologie, die nicht nur eine Option für die Armen und Benachteiligten einfordert, sondern sich auch in der eigenen Arbeit davon leiten lässt.
Hören auf Ideen und Initiativen anderer, theologisches Forschen, das zur Zusammenarbeit einlädt, Theologie, die sich für Gerechtigkeit einsetzt, Diskussion theologischer Theorien im Dienst der Praxis, wissenschaftliche Reflexion des Glaubens im Interesse daran, wie er an der Basis gelebt wird – das sind einige der Facetten der Kohärenz, die mich an Norbert Mette beeindruckt. Sie hat mich hier zu dem Versuch angeregt, diese zwei Seiten zusammen zu bringen: Religion und Erfahrungen der Empörung. Ausgehen werde ich von Gedanken, die ich dazu bei Edward Schillebeeckx entdeckt habe. Dann möchte ich auf Erfahrungen mit dem Zusammenhang von Religion und Erfahrungen der Empörung eingehen, die im nördlichen und südlichen Teil unserer Welt einen radikal entgegengesetzten Ausdruck finden. Im Anschluss an Luiz Carlos Susin werde ich am Ende zu formulieren versuchen, was sich daraus für theologisches Arbeiten ergibt.
Das Nein der Empörung und sein Geheimnis
Sein Buch „Menschen. Die Geschichte von Gott“ (deutsch 1990, Titel der Originalausgabe 1989: „Mensen als verhaal van God“) beginnt Edward Schillebeeckx mit einem Abschnitt, den er überschreibt: „Radikale Kontrasterfahrungen in unserer menschlichen Geschichte“.
„Sie bilden eine menschliche Grunderfahrung, die ich als solche für ein vor-religiöses und somit allen Menschen zugängliches Grunderlebnis halte, nämlich das Veto, das der Mensch gegen die Welt, wie diese ist, erfährt. […] Was wir als Wirklichkeit erfahren, was wir auch täglich von dieser Wirklichkeit zu sehen und zu hören bekommen, ist offensichtlich nicht ‚in Ordnung’; es ist etwas grundlegend falsch. Diese Wirklichkeit steckt voller Widersprüche. Deshalb ist die menschliche Erfahrung von Leiden und Übel, von Unterdrückung und Unglück Basis und Ursprung eines grundlegenden Neins, das Menschen über die Tatsache ihres In-der-Welt-Seins aussprechen. Diese Erfahrung ist auch gewisser, evidenter als alles, was Philosophie und Wissenschaften uns an verifizierbarem oder falsifizierbarem ‚Wissen’ darbieten können. Empörung (nicht einmal ein wissenschaftlicher Terminus) scheint eine Grunderfahrung unseres Lebens in der Welt zu sein.“ (Schillebeeckx 1990, 27)
Das grundlegende Nein, das die Begegnung mit Leiden und Unglück, mit Elend und Gewalt und den unsäglichen Verletzungen, die Menschen einander antun, in denen heraufbeschwört, die sich dieser Begegnung aussetzen, bleibt nicht unwidersprochen. Neben Ereignissen und Taten, die von menschenverachtender Grausamkeit, von Leiden, Machtmissbrauch und Terror sprechen, gibt es Fragmente des Guten, gibt es immer wieder ein Aufleuchten von Schönheit und Sinn. „Es scheint sogar unter Unterdrückten mehr Freude und Gesang zu geben als bei Unterdrückern.“ (Schillebeeckx 1990, 27) Sofern diese Widersprüchlichkeit der Empörung ihr Recht zu nehmen scheint und statt dessen eher Grund gibt zu einer zynischen oder auch nur ratlosen Relativierung und Gleichgültigkeit gegenüber Dunkelheit und Licht im menschlichen Leben, wird sie selber zum Gegenstand jenes grundlegenden Nein der Empörung: „Trotz all seines Elends ist der Mensch zu stolz, um das Böse als gleichberechtigt mit dem Guten anzusehen“ (Schillebeeckx 1990, 28).
Dennoch kann dieses rätselhafte Miteinander von Licht und Dunkelheit, von Demütigung und Größe, Zerstörung und Hingabe, Entstellung und Schönheit, von Hass und Vergebung dem Nein der Empörung seine Kraft nehmen, und zwar besonders deshalb, weil es immer wieder unmöglich ist, klare Unterscheidungen vorzunehmen, die aus dem Bösen das Gute herauswaschen würden wie Goldstaub aus dem Sand. Denn beides wurzelt offensichtlich in denselben Menschen. Angesichts der Unauflöslichkeit der Widersprüche ist die Versuchung allgegenwärtig, jegliche Betroffenheit aufzugeben, vor dem Bösen nicht mehr zu erschrecken und auch angesichts des Guten nicht mehr zu staunen und das, was nach seiner fördernden oder zerstörerischen auf das Leben „wirklich“ gut und „wirklich“ böse ist, zu verharmlosen und zu banalisieren. Hinzu kommt schließlich, dass wir nicht wissen, was den Sieg davon tragen wird. Warum sollen wir uns engagieren in einem Nein, wenn wir damit am Ende nur ganz furchtbar unterlegen sein werden? „Aus der Geschichte wissen wir nicht einmal, was in diesem Gemisch die Oberhand gewinnen wird, nicht einmal, ob, von diesem tatsächlichen Geschehen aus gesehen, ein letztes Wort zu hören sein wird.“ (Schillebeeckx 1990, 28)
Nimmt man dieses Nichtwissen, nimmt man die Versuchung zur Relativierung des Bösen und zu seiner Banalisierung, nimmt man auch nur die Ratlosigkeit angesichts des Rätsels, das der Mensch selber aufgibt, so ist klar, dass das Nein der Empörung, so spontan es sich angesichts all dessen einstellt, was Menschen und ihr Leben zerstört, eine eigene Anstrengung braucht, um sich nicht unterdrücken zu lassen. Diese Anstrengung hat einen Namen. Ethik steckt darin, aber auch von Religion kann hier gesprochen werden.
„Darin steckt Ethik, und vielleicht sogar mehr. […] Diese Weigerung des Menschen, sich mit einer solchen Situation abzufinden, bietet eine erhellende Perspektive. Sie enthüllt eine Offenheit auf eine andere Situation hin, die durchaus Anspruch auf unser Ja hat. Man kann es als einen Konsens mit ‚dem Unbekannten’ bezeichnen, dem inhaltlich nicht einmal positiv Bestimmbaren: einer besseren, einer anderen Welt, die in Wirklichkeit noch nirgends gegeben ist. Oder noch anders: mit der bloßen Feststellung der Möglichkeit, unsere Welt besser zu machen; Offenheit auf das Unbekannte und auf das Bessere hin. […]
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