Das letzte Schwurgericht. Günter Huth. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Günter Huth
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783429061586
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der Reifen aufgeweckt. Schlaftrunken erhob er sich und sah von seinem Schlafzimmerfenster aus auf die Straße. Er fragte sich erbost, welcher rücksichtslose Mensch mitten in der Nacht einen derartigen Lärm verursachte. Verärgert wollte er sich schon wieder zurück ins Bett legen, als er die bewegungslose Gestalt im gestreiften Schlafanzug im Rinnstein liegen sah. Schlagartig war er wach. Er schlüpfte in seine Hose und rannte hinaus. Mit Entsetzen erkannte er unter der blutigen Maske das Gesicht seines Nachbarn.

      Wenig später konnte der herbeigerufene Notarzt nur noch den Tod Dr. Wilhelm Kürschners, des pensionierten Vorsitzenden Richters des Landgerichts Würzburg, feststellen. Der Aufprall hatte ihm das Genick gebrochen und der Bordstein den Schädel eingeschlagen. Die beiden Schüsse in seine Augen wären gar nicht mehr erforderlich gewesen. Der Täter hatte die Augenhöhlen in zwei blutige Seen verwandelt. Das Blut verschwand als schmales Rinnsal im zwei Meter entfernten Gully. Der Notarzt alarmierte die Einsatzzentrale der Polizei. Wenig später traf die Mordkommission ein und verwandelte die stille Seitenstraße in einen emsigen Ameisenhaufen.

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      Erster Kriminalhauptkommissar Eberhard Brunner hob sein Weinglas und prostete seinem Gegenüber zu.

      »Zum Wohl, Simon, schön, dass du wieder einmal einen gemeinsamen Schoppenabend ermöglichen konntest. Seitdem du in Gemünden die höheren Weihen eines Amtsgerichtsdirektors erhalten hast, sehen wir uns ja kaum noch.«

      In der Zeit, als Simon Kerner in seiner Funktion als Oberstaatsanwalt der Staatsanwaltschaft Würzburg das große Ermittlungsverfahren gegen die Mafia-Familie Emolino im Landkreis Main-Spessart durchführte, war Brunner der Leiter der mit den Ermittlungen beauftragten Sonderkommission Spessartblues. Nach Beendigung des Verfahrens und der Auflösung der Sonderkommission hatte man Brunner zum Leiter des Kommissariats 1 der Würzburger Mordkommission ernannt.

      Simon Kerner trank, dann setzte er sein Glas langsam wieder ab. »Da kann ich dir nur beipflichten. Weißt du, für mich besteht im Grunde eigentlich keine Notwendigkeit mehr, nach Würzburg zu fahren. Mal abgesehen von jährlich ein bis zwei Dienstbesprechungen am Landgericht. Ich pendle zwischen meiner Wohnung in Partenstein und dem Gericht in Gemünden hin und her und wenn Steffi und ich etwas einkaufen wollen, fahren wir nach Lohr oder Karlstadt. Das sind für uns die kürzesten Wege. Da bekommen wir eigentlich alles, was wir so benötigen, und haben nicht den Stress wie in der Großstadt.«

      Die beiden, die seit der gemeinsamen Ermittlungsarbeit im Emolinofall Freunde geworden waren, saßen in der Weinstube Johanniterbäck und genossen einen fruchtigen Silvaner. Gerne hatte Kerner Brunners Einladung angenommen, die Nacht bei ihm im Gästezimmer zu verbringen. So konnte er ohne Rücksicht auf Promillegrenzen zusammen mit dem Freund den Abend genießen und sich ein paar Schoppen gönnen. Morgen war Samstag, und er musste nicht ins Büro.

      Durch das Gespräch schweiften Kerners Gedanken für einen Moment in die Vergangenheit zurück. Er war damals hart an die Grenzen seiner Integrität gestoßen, weil er lange Zeit geglaubt hatte, durch einen schrecklichen Zufall auf der Jagd den Sohn des Mafiabosses, gegen den er ermittelte, erschossen zu haben. Die Mafia entführte daraufhin seine Freundin und drohte ihm mit deren Tod. Unter diesem Zwang hatte sich Kerner nach schwersten inneren Kämpfen einige Zeit in der Grauzone des Gesetzes bewegt. Dank seiner Fähigkeiten, die er sich als Offizier einer Elitekampftruppe der Bundeswehr angeeignet hatte, gelang es ihm schließlich, Steffi zu befreien. Der Hinrichtung durch die Mafia waren Steffi und er nur knapp entgangen. Kerner würde niemals vergessen, dass er in diesem Kampf in die Abgründe seines eigenen Ichs geblickt hatte. Noch heute setzte er sich immer wieder mit der Tatsache auseinander, dass durch ihn Menschen zu Tode gekommen waren. Es war für ihn noch immer erschütternd, wenn er sich bewusst machte, wie fragil auch bei ihm die Zivilisationsschicht war. Seitdem beurteilte er die Verfehlungen der Menschen, die vor ihm als Richter standen, aus einem erweiterten Blickwinkel.

      Brunner bemerkte, dass sein Freund kurze Zeit geistesabwesend war. Der Kripobeamte konnte sich denken, wohin Kerners Gedanken abgeglitten waren. Auch Brunner war in dem damaligen Fall hart an die Grenzen seiner Loyalität gegenüber dem Gesetz einerseits und dem Freund andererseits gestoßen. Beide wussten, dass durch dieses Kapitel ihres Lebens ein schwarzer Schatten auf ihre ansonsten weißen Westen gefallen war.

      Brunner hielt einen abrupten Themenwechsel für angebracht.

      »Hast du übrigens mitbekommen, dass vor zwei Tagen Dr. Kürschner verstorben ist? Dr. Wilhelm Kürschner, du kannst dich doch an ihn erinnern? Er war lange Zeit beim Landgericht Würzburg der Vorsitzende des Schwurgerichts. Ein harter Knochen, bei dem die Angeklagten nichts zu lachen hatten.«

      Kerner hatte den plötzlichen Themenwechsel noch nicht ganz nachvollzogen. Es dauerte einen Augenblick, bis er aus seiner Gedankenwelt in die Gegenwart zurückgekehrt war und Brunners Worte verinnerlicht hatte. Zustimmend nickte er.

      »Natürlich erinnere ich mich an Dr. Kürschner. Wir haben ihn damals bei der Staatsanwaltschaft hinter vorgehaltener Hand Dr. Gnadenlos genannt. Ein äußerst fähiger Jurist, aber wirklich knallhart in seinen Entscheidungen. Eine Anklage vor dem Schwurgericht endete fast zu hundert Prozent mit einer Verurteilung. Lass mich überlegen, so alt dürfte er doch noch gar nicht gewesen sein. Es stand gar nichts in der Zeitung.«

      »Es war kein natürlicher Tod. Eine äußerst unschöne Sache. Er wurde vor seinem Haus von einem Auto überfahren. Aus den Spuren zu schließen, vorsätzlich. Wir haben ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Der Zusammenstoß war so stark, dass er an den Folgen sofort verstorben ist. Damit hat sich der Täter aber nicht zufrieden gegeben. Nach der Kollision ist der Fahrer oder Beifahrer ausgestiegen, zu dem alten Mann hingegangen und hat ihm gezielt aus nächster Nähe in beide Augen geschossen.«

      »Das ist ja total pervers! Das sieht ja fast so aus, als wollte der Täter eine Botschaft hinterlassen. Riecht irgendwie nach einer Rachehandlung oder einem Ritualmord.«

      »Wir tappen im Augenblick noch völlig im Dunkeln. Laut Aussage der Nachbarn war Dr. Kürschner ziemlich dement. Wieso er mitten in der Nacht auf die Straße gelaufen ist, ist noch rätselhaft. Ein paar Kilometer entfernt, in der Nähe des Hubland-Campus haben wir das Tatfahrzeug gefunden. Die Spuren am Fahrzeug waren eindeutig. Es war gestohlen. Der Eigentümer hatte den Diebstahl schon angezeigt. Im Fahrzeug fanden wir keine verwertbaren Spuren, die auf den Täter hindeuteten. Wir ermitteln in Kürschners privatem und in seinem früheren beruflichen Umfeld. Aus ermittlungstechnischen Gründen ging noch nichts an die Presse hinaus. Deshalb konntest du auch noch nichts darüber in der Zeitung lesen.«

      Kerner malte nachdenklich mit dem Zeigefinger Striche an sein beschlagenes Weinglas.

      »Es würde mich nicht wundern, wenn der oder die Täter in seiner beruflichen Vergangenheit zu finden wären. Dr. Kürschner war wirklich ein knallharter Richter, der keine Kompromisse machte.«

      Brunner sah ihn zweifelnd an. »Bei einem Schwurgerichtsprozess entscheiden doch fünf Richter, drei Berufsrichter und zwei Schöffen, über das Urteil. Kann da wirklich der Vorsitzende eine so dominante Rolle spielen?«

      »Prinzipiell ist das schon richtig. Die Berufsrichter und die Schöffen stimmen in geheimer Beratung über das Urteil ab, wobei jede Stimme gleichwertig ist. Eigentlich dürfte über die Beratungen nichts nach außen dringen, aber unter Kollegen ist dann hin und wieder mal durchgesickert, dass es keinen Fall gab, bei dem letztlich etwas anderes herausgekommen ist, als sich Dr. Kürschner vorgestellt hatte. Er muss, gelinde gesagt, bei den Urteilsberatungen eine starke Überzeugungskraft gehabt haben. Es war ein offenes Geheimnis, dass Kürschner eine gewisse Affinität zur Todesstrafe hatte und bedauerte, dass man sie in Deutschland abgeschafft hatte. Man kann das ja sogar nachlesen. Er hat sich in seiner Freizeit literarisch mit den teilweise martialischen Strafen früherer Jahrhunderte auseinandergesetzt. Sein Standardwerk über die Hinrichtungsstätten in Würzburg zu Zeiten der Fürstbischöfe und deren Rechtsprechung hat ja in einschlägigen wissenschaftlichen Kreisen durchaus Anerkennung erfahren. Insgesamt betrachtet, war