Jahre später
Der Mann im weißen Arztkittel sah sein Gegenüber über die Schreibtischplatte hinweg ernst an. Vor ihm lag aufgeschlagen eine nicht sonderlich dicke Patientenakte. Seine Hand ruhte schwer auf der letzten Seite eines Befundes.
»Es tut mir schrecklich leid, dass ich Ihnen nichts Positiveres sagen kann.« Mit diesem Satz schloss der Arzt seine Ausführungen, mit denen er gerade seinem Patienten das umfangreiche Untersuchungsergebnis erläutert hatte. Einen Moment lang herrschte Sprachlosigkeit.
Der Patient spielte mit den Fingerspitzen an einer der beiden Metallschließen herum, mit denen die Träger seiner blauen Latzhose festgehalten wurden. Es war das einzige Zeichen von Nervosität, das dem Mann anzusehen war. Ansonsten saß er ruhig auf dem einfachen Holzstuhl und starrte auf die Buchstaben, die von der Hand des Arztes weitgehend verdeckt wurden. Es war schon erstaunlich, wie wenig Platz ein Todesurteil benötigte, dachte er.
»Wie lange noch?«, durchbrach er das Schweigen. Seine Stimme klang angespannt und heiser.
Der Arzt hob leicht die Schultern. Er war sich sehr wohl bewusst, dass die Antwort auf diese Frage in ihrer psychologischen Wirkung der Nennung einer Frist bis zur Vollstreckung einer Hinrichtung gleichkam.
»Es ist schwer, hier eine Prognose zu wagen.«
»Jetzt sagen Sie schon! Ein Jahr … oder weniger? Reden Sie, ich werde schon nicht zusammenbrechen.«
Die Worte des Mannes kamen gepresst und zerstörten damit den Versuch, Gelassenheit zu demonstrieren.
Der Arzt atmete tief durch und erklärte mit gesenkter Stimme: »Drei Monate … vielleicht ein halbes Jahr. Aber das sind nur Annahmen, die auf statistischen Erfahrungen beruhen. Eine verbindliche Auskunft kann Ihnen leider niemand geben …« Seine Stimme verklang. Die Antwort stand schwer im Raum und gewann an bedrückender Endgültigkeit durch das neuerliche Schweigen. Schließlich fuhr er fort: »Ich werde natürlich versuchen, Ihnen, soweit es in meiner Macht liegt, durch die Verabreichung entsprechender Medikamente Schmerzen zu ersparen. Wenn der Krebs allerdings weiter fortschreitet, wäre dann an eine Verlegung auf eine Palliativstation zu denken. Wir sind hier für die Betreuung derart schwerer Fälle nicht eingerichtet.« Er unterbrach sich erneut, dann fügte er hinzu: »Es tut mir wirklich sehr leid für Sie.«
Der Patient erhob sich. »Schon gut, Doktor.«
»Wir sehen uns in einer Woche wieder«, erklärte der Arzt und gab ihm über die Schreibtischfläche hinweg die Hand.
Der Mann verließ das Sprechzimmer. Der Arzt starrte geraume Zeit auf die geschlossene Tür. Er hasste solche Gespräche. Trotz aller Professionalität waren sie emotional immer sehr anstrengend.
Draußen, im kleinen Wartezimmer, erhob sich ein Mann in Uniform, der hier gewartet hatte.
»Und, wie sieht es aus?«, wollte er wissen.
»Ich habe gerade eine massive Haftverkürzung bekommen«, erwiderte er mit bitterer Ironie. Der Versuch eines Grinsens misslang im Ansatz. »Drei Monate bis ein halbes Jahr hat der Medizinmann gemeint. Also ein überschaubarer Zeitraum, bis ein neuer Mieter in meine Zelle einziehen kann.«
»Mist!«, gab der Vollzugsbeamte zurück. Was sollte er auch sagen? Dass der Strafgefangene Alexander Thannenberger, der wegen Mordes zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe verurteilt war und diese Strafe hier, in der Justizvollzugsanstalt Straubing, seit sechs Jahren abbüßte, Krebs im Endstadium hatte, war ihm bekannt. Diese unerbittliche Prognose überraschte aber auch ihn. Gewiss, die Vollzugsbeamten, die regelmäßig mit den Lebenslänglichen zu tun hatten, waren gehalten, kein allzu persönliches Verhältnis zu den Gefangenen aufzubauen. Freundlich ja, aber immer mit einer gewissen Distanz, damit die Dienstpflicht nicht darunter litt. Die Grenzlinien mussten immer klar definiert sein. Trotzdem konnte es nicht ausbleiben, dass man zu bestimmten Gefangenen eine andere Beziehung aufbaute als zu den übrigen. Thannenberger war so einer. Er war ein sehr ruhiger, stets höflicher Zeitgenosse, der den Beamten nie Schwierigkeiten machte. Eigentlich ein Musterhäftling. Der Gefangene hielt seine Zelle in Ordnung, achtete auf seine Körperhygiene und legte sich nie mit seinen Mitsträflingen an. Seit er wegen seiner Krankheit nicht mehr in der anstaltseigenen Werkstatt arbeiten konnte, hatte man ihm eine leichte Tätigkeit in der Bibliothek übertragen, die er sehr sorgfältig ausübte.
Thannenberger und der Beamte waren an der Zelle angekommen, die seit Jahren der Lebensmittelpunkt des Gefangenen war. Der Uniformierte schloss die Tür auf und schob den Riegel zurück. Er öffnete sie bis zur Wand. Tagsüber wurden die Lebenslänglichen, die sich ordentlich führten, nicht eingeschlossen.
»Es ist Zeit für Ihre Medikamente«, stellte der Bedienstete fest, während er routiniert seinen prüfenden Blick durch die Zelle gleiten ließ. »Ich werde sie Ihnen gleich vorbeibringen.«
Thannenberger nickte und setzte sich auf sein ordentlich gemachtes Bett. Eine einfache Bettstatt aus Metall, verschweißt und nicht geschraubt, damit sie nicht zerlegt werden konnte, mit einer Matratze, einem dünnen Kissen und einer gleichfalls einfachen Zudecke. Beide mit einem blaukarierten Stoff bezogen. Er hörte, wie die Schritte des Vollzugsbeamten auf dem Gang verhallten.
Er warf einen Blick zum Fenster, das sich an der Schmalseite der Zelle zur Außenwand hin, dicht unter der Decke befand. Aus Sicherheitsgründen ließ es sich nur leicht kippen. An heißen Tagen war die Hitze im Raum nur schwer zu ertragen. Durch die verschmutzten Scheiben konnte man die stabilen Außengitter erkennen.
Thannenberger erhob sich. Zum Wasserbecken waren es nur zwei Schritte. Durstig trank er einen Schluck aus der hohlen Hand. Die Zelle hatte gerade mal knappe neun Quadratmeter, wovon ein Großteil von Bett, Tisch, Stuhl, einem schmalen Spind und der in der Ecke eingebauten Edelstahltoilette verbraucht wurde. Als Lebenslänglichem war es ihm grundsätzlich gestattet, ein Mindestmaß an individueller Einrichtung zu haben. Sie erschöpfte sich bei ihm allerdings in einem Landschaftsposter über dem Bett, das eine Flussaue zeigte, und zwei Fotografien, die er mit Klebepads am Spind befestigt hatte. Beide zeigten eine Frau mittleren Alters in verschiedenen Posen, die freundlich in die Kamera lächelte.
Als er sich auf dem Stuhl am Tisch niederließ, fuhr ein zuckender Schmerz durch seinen Leib. Unwillkürlich krümmte er sich zusammen und stieß ein unterdrücktes Stöhnen aus. Sein körpereigener Mitbewohner brachte sich wieder brutal in Erinnerung. Schlagartig trat ihm kalter Schweiß auf die Stirn. Mühsam schleppte er sich zum Bett. In Embryonalhaltung blieb er liegen und biss die Zähne zusammen. Diese Anfälle kamen in der letzten Zeit immer häufiger und heftiger. Nach einigen Minuten ebbte die Schmerzwelle wieder ab, und er konnte sich aufrichten. Gerade rechtzeitig hatte er sich wieder in der Gewalt, als der Vollzugsbeamte in der Tür stand.
»So, hier habe ich Ihre Tabletten«, erklärte er. Er hob eine kleine durchsichtige Schale aus Kunststoff hoch, in der sich zwei rosa Kapseln befanden. »Sie kennen ja das Prozedere.«
Thannenberger nickte, ging zum Waschbecken und ließ Wasser in einen Plastiktrinkbecher laufen. Der Beamte schüttete ihm dann die beiden Kapseln in die Handfläche, und der Gefangene warf sie sich mit einer schnellen Bewegung in den Mund. Darauf spülte er mit Wasser nach.
»Okay, lassen Sie mich nachsehen«, sagte der Beamte und machte eine auffordernde Handbewegung.
Thannenberger öffnete den Mund weit, und der Mann warf einen flüchtigen Blick in seine Mundhöhle. Damit war den Bestimmungen Genüge getan.
»In Ordnung«, erklärte er, nahm das Tablettenbehältnis und steckte es in die Tasche seiner Uniformjacke. »Ich hoffe, es wird dadurch für Sie etwas erträglicher.« Sein Bemühen um menschliche Anteilnahme war offensichtlich.
Thannenberger nickte knapp, dann legte er sich wieder